eine blässere Sonne scheint. Sie haben sich friedlich in den Wäldern aufgehalten, haben von den Leuten geheischen, was sie zu ihrer Noth¬ durft brauchten, und haben in guter Freundschaft mit ihnen gelebt. Dann haben böse Menschen Mißtrauen und Hader gesät, und seit mehr als hundert Jahren wird unser Stamm verfolgt, so daß keins von uns sein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes fried¬ liche Fortkommen ist uns abgeschnitten, als ob wir nicht auch Christen und Kinder Gottes wären, die gelebt haben müssen, und wir mögen unsre Nahrung suchen wie wir wollen, so sind wir dafür von Mutter¬ leib an zum Tod verurtheilt. Drei Männer hab' ich nach einander gehabt, keinen lang: alle drei sind am Galgen gestorben. Zwei Schwestern und ein Bruder sind den gleichen Todesweg gegangen; die dritte Schwester hat sich zu Karlsruhe im Gefängniß erhenkt, denn Freiheit ist unsre Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schwestern ist einer durch das Schwert, einer durch den Strang gestorben. Ein Sohn, zwei Schwiegersöhne, eine Schwieger- und eine Schwestertochter sind gehenkt, zehn Männer, mit mir verschwägert oder verwandt, des¬ gleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundert und ein Jahr auf die Galeere angeschmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und einen Tochtermann hab' ich mit eigner Hand vom Galgen geholt und unter heißen Thränen und Gebeten begraben. Bei den Andern hat's nicht sein mögen. Und nun betrachtet mein Loos und wagt noch über euer eigenes zu klagen.
Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz saß sie da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gast konnte kein Auge von ihr wenden, wie sie die Blicke vor sich in den Boden bohrte. Weit entfernt, in ihren Erlebnissen ein abschreckendes Beispiel zu sehen, fühlte er eine tiefe Theilnahme für sie und die verwaisten Mädchen, die schon so früh den versengenden Frost des Lebens kennen gelernt. Freilich verschwieg sie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne eigene Schuld in den deutschen Landen Schutz und Gastfreundschaft verwirkt hatte; daß zwei ihrer Männer diesem Volke nicht angehört, überging sie gleichfalls mit Stillschweigen; und durch welche Thaten so viele der Ihrigen von einer freilich rohen, aber zum Kampfe auf Leben und Tod genöthigten Staatsgesellschaft sich ein schauerliches Ende zugezogen, das schien sie gegen ihre Erlebnisse nicht in die Wagschale zu legen.
eine bläſſere Sonne ſcheint. Sie haben ſich friedlich in den Wäldern aufgehalten, haben von den Leuten geheiſchen, was ſie zu ihrer Noth¬ durft brauchten, und haben in guter Freundſchaft mit ihnen gelebt. Dann haben böſe Menſchen Mißtrauen und Hader geſät, und ſeit mehr als hundert Jahren wird unſer Stamm verfolgt, ſo daß keins von uns ſein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes fried¬ liche Fortkommen iſt uns abgeſchnitten, als ob wir nicht auch Chriſten und Kinder Gottes wären, die gelebt haben müſſen, und wir mögen unſre Nahrung ſuchen wie wir wollen, ſo ſind wir dafür von Mutter¬ leib an zum Tod verurtheilt. Drei Männer hab' ich nach einander gehabt, keinen lang: alle drei ſind am Galgen geſtorben. Zwei Schweſtern und ein Bruder ſind den gleichen Todesweg gegangen; die dritte Schweſter hat ſich zu Karlsruhe im Gefängniß erhenkt, denn Freiheit iſt unſre Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schweſtern iſt einer durch das Schwert, einer durch den Strang geſtorben. Ein Sohn, zwei Schwiegerſöhne, eine Schwieger- und eine Schweſtertochter ſind gehenkt, zehn Männer, mit mir verſchwägert oder verwandt, des¬ gleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundert und ein Jahr auf die Galeere angeſchmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und einen Tochtermann hab' ich mit eigner Hand vom Galgen geholt und unter heißen Thränen und Gebeten begraben. Bei den Andern hat's nicht ſein mögen. Und nun betrachtet mein Loos und wagt noch über euer eigenes zu klagen.
Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz ſaß ſie da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gaſt konnte kein Auge von ihr wenden, wie ſie die Blicke vor ſich in den Boden bohrte. Weit entfernt, in ihren Erlebniſſen ein abſchreckendes Beiſpiel zu ſehen, fühlte er eine tiefe Theilnahme für ſie und die verwaisten Mädchen, die ſchon ſo früh den verſengenden Froſt des Lebens kennen gelernt. Freilich verſchwieg ſie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne eigene Schuld in den deutſchen Landen Schutz und Gaſtfreundſchaft verwirkt hatte; daß zwei ihrer Männer dieſem Volke nicht angehört, überging ſie gleichfalls mit Stillſchweigen; und durch welche Thaten ſo viele der Ihrigen von einer freilich rohen, aber zum Kampfe auf Leben und Tod genöthigten Staatsgeſellſchaft ſich ein ſchauerliches Ende zugezogen, das ſchien ſie gegen ihre Erlebniſſe nicht in die Wagſchale zu legen.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0406"n="390"/>
eine bläſſere Sonne ſcheint. Sie haben ſich friedlich in den Wäldern<lb/>
aufgehalten, haben von den Leuten geheiſchen, was ſie zu ihrer Noth¬<lb/>
durft brauchten, und haben in guter Freundſchaft mit ihnen gelebt.<lb/>
Dann haben böſe Menſchen Mißtrauen und Hader geſät, und ſeit<lb/>
mehr als hundert Jahren wird unſer Stamm verfolgt, ſo daß keins<lb/>
von uns ſein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes fried¬<lb/>
liche Fortkommen iſt uns abgeſchnitten, als ob wir nicht auch Chriſten<lb/>
und Kinder Gottes wären, die gelebt haben müſſen, und wir mögen<lb/>
unſre Nahrung ſuchen wie wir wollen, ſo ſind wir dafür von Mutter¬<lb/>
leib an zum Tod verurtheilt. Drei Männer hab' ich nach einander<lb/>
gehabt, keinen lang: alle drei ſind am Galgen geſtorben. Zwei<lb/>
Schweſtern und ein Bruder ſind den gleichen Todesweg gegangen; die<lb/>
dritte Schweſter hat ſich zu Karlsruhe im Gefängniß erhenkt, denn<lb/>
Freiheit iſt unſre Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schweſtern<lb/>
iſt einer durch das Schwert, einer durch den Strang geſtorben. Ein<lb/>
Sohn, zwei Schwiegerſöhne, eine Schwieger- und eine Schweſtertochter<lb/>ſind gehenkt, zehn Männer, mit mir verſchwägert oder verwandt, des¬<lb/>
gleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundert und ein Jahr auf die<lb/>
Galeere angeſchmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und<lb/>
einen Tochtermann hab' ich mit eigner Hand vom Galgen geholt und<lb/>
unter heißen Thränen und Gebeten begraben. Bei den Andern hat's<lb/>
nicht ſein mögen. Und nun betrachtet mein Loos und wagt noch<lb/>
über euer eigenes zu klagen.</p><lb/><p>Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz ſaß ſie<lb/>
da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gaſt konnte kein<lb/>
Auge von ihr wenden, wie ſie die Blicke vor ſich in den Boden bohrte.<lb/>
Weit entfernt, in ihren Erlebniſſen ein abſchreckendes Beiſpiel zu ſehen,<lb/>
fühlte er eine tiefe Theilnahme für ſie und die verwaisten Mädchen,<lb/>
die ſchon ſo früh den verſengenden Froſt des Lebens kennen gelernt.<lb/>
Freilich verſchwieg ſie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne eigene<lb/>
Schuld in den deutſchen Landen Schutz und Gaſtfreundſchaft verwirkt<lb/>
hatte; daß zwei ihrer Männer dieſem Volke nicht angehört, überging<lb/>ſie gleichfalls mit Stillſchweigen; und durch welche Thaten ſo viele<lb/>
der Ihrigen von einer freilich rohen, aber zum Kampfe auf Leben und<lb/>
Tod genöthigten Staatsgeſellſchaft ſich ein ſchauerliches Ende zugezogen,<lb/>
das ſchien ſie gegen ihre Erlebniſſe nicht in die Wagſchale zu legen.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[390/0406]
eine bläſſere Sonne ſcheint. Sie haben ſich friedlich in den Wäldern
aufgehalten, haben von den Leuten geheiſchen, was ſie zu ihrer Noth¬
durft brauchten, und haben in guter Freundſchaft mit ihnen gelebt.
Dann haben böſe Menſchen Mißtrauen und Hader geſät, und ſeit
mehr als hundert Jahren wird unſer Stamm verfolgt, ſo daß keins
von uns ſein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes fried¬
liche Fortkommen iſt uns abgeſchnitten, als ob wir nicht auch Chriſten
und Kinder Gottes wären, die gelebt haben müſſen, und wir mögen
unſre Nahrung ſuchen wie wir wollen, ſo ſind wir dafür von Mutter¬
leib an zum Tod verurtheilt. Drei Männer hab' ich nach einander
gehabt, keinen lang: alle drei ſind am Galgen geſtorben. Zwei
Schweſtern und ein Bruder ſind den gleichen Todesweg gegangen; die
dritte Schweſter hat ſich zu Karlsruhe im Gefängniß erhenkt, denn
Freiheit iſt unſre Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schweſtern
iſt einer durch das Schwert, einer durch den Strang geſtorben. Ein
Sohn, zwei Schwiegerſöhne, eine Schwieger- und eine Schweſtertochter
ſind gehenkt, zehn Männer, mit mir verſchwägert oder verwandt, des¬
gleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundert und ein Jahr auf die
Galeere angeſchmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und
einen Tochtermann hab' ich mit eigner Hand vom Galgen geholt und
unter heißen Thränen und Gebeten begraben. Bei den Andern hat's
nicht ſein mögen. Und nun betrachtet mein Loos und wagt noch
über euer eigenes zu klagen.
Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz ſaß ſie
da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gaſt konnte kein
Auge von ihr wenden, wie ſie die Blicke vor ſich in den Boden bohrte.
Weit entfernt, in ihren Erlebniſſen ein abſchreckendes Beiſpiel zu ſehen,
fühlte er eine tiefe Theilnahme für ſie und die verwaisten Mädchen,
die ſchon ſo früh den verſengenden Froſt des Lebens kennen gelernt.
Freilich verſchwieg ſie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne eigene
Schuld in den deutſchen Landen Schutz und Gaſtfreundſchaft verwirkt
hatte; daß zwei ihrer Männer dieſem Volke nicht angehört, überging
ſie gleichfalls mit Stillſchweigen; und durch welche Thaten ſo viele
der Ihrigen von einer freilich rohen, aber zum Kampfe auf Leben und
Tod genöthigten Staatsgeſellſchaft ſich ein ſchauerliches Ende zugezogen,
das ſchien ſie gegen ihre Erlebniſſe nicht in die Wagſchale zu legen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/406>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.