Weib dem Manne folgen soll, und du gibst deinem Herzen Gehör -- wohlan, du weißt genug und ich habe mich schon zu viel angeboten.
Unsere Tage hier sind gezählt. Wenn du willst, kannst du uns finden.
Sie grüßte leicht mit der Hand und war im Walde verschwunden.
35.
Christine war nicht da. Sie sei diesen Nachmittag fortgegangen, hörte er von ihrer Wirthin, und habe gesagt, sie müsse nach ihrem Manne sehen und ihre Kleidungsstücke holen. Sie habe vorher eine Zeit lang in der Bibel gelesen, und sei dann auf einmal aufgebrochen. Er setzte sich verdrossen vor das noch aufgeschlagene Buch und las mühselig in der Dämmerung: "Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele liebt; ich suchte, aber ich fand ihn nicht." Es war das hohe Lied, das in dunkler, aber zündender Sprache von zwei verbundenen Herzen, die sich suchen und wiederfinden, erzählt. Obgleich die von der Kirche hinzugefügten Ueberschriften diesem berauschenden Klag- und Jubelliede eine ganz andere Auslegung gaben, so schienen doch seine Flammenworte Christinens Herz in der Einsamkeit ergriffen und mit jenem Weh angefüllt zu haben, von welchem das Lied selbst sagt: "Liebe ist stark wie der Tod, und Eifer ist vest wie die Hölle; ihre Gluth ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viel Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ersäufen." Er schlug unruhig die wohlbekannten zwei Blätter hin und her, die auch für ihn so manches Wort enthielten, und das Herz klopfte ihm, als die Stelle vor seine Augen trat, wo es heißt: "Ich bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalem's, sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich so verbrannt."
Er legte das Buch wieder hin, und ging um sein Weib aufzusuchen. Er war in dem schon nächtlich dunklen Walde noch nicht weit gegangen, als er eine weibliche Gestalt gegen sich kommen sah, die bei seinem Anblick zaudernd stehen blieb. Er erkannte sie erst als er sich ihr
27 *
Weib dem Manne folgen ſoll, und du gibſt deinem Herzen Gehör — wohlan, du weißt genug und ich habe mich ſchon zu viel angeboten.
Unſere Tage hier ſind gezählt. Wenn du willſt, kannſt du uns finden.
Sie grüßte leicht mit der Hand und war im Walde verſchwunden.
35.
Chriſtine war nicht da. Sie ſei dieſen Nachmittag fortgegangen, hörte er von ihrer Wirthin, und habe geſagt, ſie müſſe nach ihrem Manne ſehen und ihre Kleidungsſtücke holen. Sie habe vorher eine Zeit lang in der Bibel geleſen, und ſei dann auf einmal aufgebrochen. Er ſetzte ſich verdroſſen vor das noch aufgeſchlagene Buch und las mühſelig in der Dämmerung: „Ich ſuchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele liebt; ich ſuchte, aber ich fand ihn nicht.“ Es war das hohe Lied, das in dunkler, aber zündender Sprache von zwei verbundenen Herzen, die ſich ſuchen und wiederfinden, erzählt. Obgleich die von der Kirche hinzugefügten Ueberſchriften dieſem berauſchenden Klag- und Jubelliede eine ganz andere Auslegung gaben, ſo ſchienen doch ſeine Flammenworte Chriſtinens Herz in der Einſamkeit ergriffen und mit jenem Weh angefüllt zu haben, von welchem das Lied ſelbſt ſagt: „Liebe iſt ſtark wie der Tod, und Eifer iſt veſt wie die Hölle; ihre Gluth iſt feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viel Waſſer nicht mögen die Liebe auslöſchen, noch die Ströme ſie erſäufen.“ Er ſchlug unruhig die wohlbekannten zwei Blätter hin und her, die auch für ihn ſo manches Wort enthielten, und das Herz klopfte ihm, als die Stelle vor ſeine Augen trat, wo es heißt: „Ich bin ſchwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jeruſalem's, ſehet mich nicht an, daß ich ſo ſchwarz bin, denn die Sonne hat mich ſo verbrannt.“
Er legte das Buch wieder hin, und ging um ſein Weib aufzuſuchen. Er war in dem ſchon nächtlich dunklen Walde noch nicht weit gegangen, als er eine weibliche Geſtalt gegen ſich kommen ſah, die bei ſeinem Anblick zaudernd ſtehen blieb. Er erkannte ſie erſt als er ſich ihr
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Weib dem Manne folgen ſoll, und du gibſt deinem Herzen Gehör —
wohlan, du weißt genug und ich habe mich ſchon zu viel angeboten.
Unſere Tage hier ſind gezählt. Wenn du willſt, kannſt du uns finden.
Sie grüßte leicht mit der Hand und war im Walde verſchwunden.
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Chriſtine war nicht da. Sie ſei dieſen Nachmittag fortgegangen,
hörte er von ihrer Wirthin, und habe geſagt, ſie müſſe nach ihrem
Manne ſehen und ihre Kleidungsſtücke holen. Sie habe vorher eine
Zeit lang in der Bibel geleſen, und ſei dann auf einmal aufgebrochen.
Er ſetzte ſich verdroſſen vor das noch aufgeſchlagene Buch und las
mühſelig in der Dämmerung: „Ich ſuchte des Nachts in meinem
Bette, den meine Seele liebt; ich ſuchte, aber ich fand ihn nicht.“ Es
war das hohe Lied, das in dunkler, aber zündender Sprache von zwei
verbundenen Herzen, die ſich ſuchen und wiederfinden, erzählt. Obgleich
die von der Kirche hinzugefügten Ueberſchriften dieſem berauſchenden
Klag- und Jubelliede eine ganz andere Auslegung gaben, ſo ſchienen
doch ſeine Flammenworte Chriſtinens Herz in der Einſamkeit ergriffen
und mit jenem Weh angefüllt zu haben, von welchem das Lied ſelbſt
ſagt: „Liebe iſt ſtark wie der Tod, und Eifer iſt veſt wie die Hölle;
ihre Gluth iſt feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viel
Waſſer nicht mögen die Liebe auslöſchen, noch die Ströme ſie erſäufen.“
Er ſchlug unruhig die wohlbekannten zwei Blätter hin und her, die
auch für ihn ſo manches Wort enthielten, und das Herz klopfte ihm, als
die Stelle vor ſeine Augen trat, wo es heißt: „Ich bin ſchwarz, aber
gar lieblich, ihr Töchter Jeruſalem's, ſehet mich nicht an, daß ich ſo
ſchwarz bin, denn die Sonne hat mich ſo verbrannt.“
Er legte das Buch wieder hin, und ging um ſein Weib aufzuſuchen.
Er war in dem ſchon nächtlich dunklen Walde noch nicht weit gegangen,
als er eine weibliche Geſtalt gegen ſich kommen ſah, die bei ſeinem
Anblick zaudernd ſtehen blieb. Er erkannte ſie erſt als er ſich ihr
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/435>, abgerufen am 21.11.2024.
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