haben. Sie lief auf die Wiese, wo der Fischer den Todesschuß er¬ halten hatte, und begann sich an dem von der Sense verlassenen Grase zu ergötzen.
Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des Thälchens den schmalen Weg dahergegangen, eine von Alter gebeugte und gebrochene Gestalt. Es war der Sonnenwirth, der in dieser frühen Stunde auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeschlossen hatte und jetzt dem Thale zuging, um auf den Wiesen im Vorübergehen nach seinen Mähern zu sehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes Gesicht verrieth, daß seine guten Tage gezählt waren.
Er schritt kummervoll zu Boden blickend seinen Weg dahin. Da rief eine Stimme über ihm, wie mit Donnerton: Sonnenwirth von Ebersbach!
Er fuhr zusammen und blickte in die Höhe. War das sein Sohn an dem steilen Waldabhange über ihm? Er stand auf einer Lichtung, so daß die Bäume unter ihm nur bis an seine Brust reichten und ihn als eine Gestalt von übermenschlicher Größe erscheinen ließen.
Sonnenwirth von Ebersbach! rief er, auf sein Gewehr gestützt: wo hast du deinen Sohn?
Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.
Sieh her! fuhr die Erscheinung fort, auf ein junges Bäumchen deutend, das ohne Stütze überhing, und dann auf einen knorrig ver¬ krüppelten Baum daneben: sieh, wenn ich den jungen Schößling in die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, so wächst er aufrecht und lustig fort, aber an dem alten Knorren, der in seiner Jugend versäumt worden ist, ist alle Kunst verloren. Du hast deinem Sohn gesagt, du wollest ihm die Aest' abhauen, wenn er zu krattelig werde. An dem alten verwachsenen Knorren kannst du sehen, wie weit du es gebracht hast. Du hast deinen Schößling üppig aufwachsen lassen, da ihm strenge Zucht nöthig war, und zur Zeit des freien Wachs¬ thums hast du ihn zu Schanden geschnitten. Dein Bub' ist jetzt ein Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. -- Laß dein Weib nicht für mich beten, wie sie einmal gesagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft. Wenn du aber glaubst, alter Mann, daß du dir mit deinem Handel und Wandel eine Ansprache im Himmel eröffnet habest, dann bete du für mich. -- Meine Zeit ist um, Vater, Ihr braucht keine Angst
haben. Sie lief auf die Wieſe, wo der Fiſcher den Todesſchuß er¬ halten hatte, und begann ſich an dem von der Senſe verlaſſenen Graſe zu ergötzen.
Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des Thälchens den ſchmalen Weg dahergegangen, eine von Alter gebeugte und gebrochene Geſtalt. Es war der Sonnenwirth, der in dieſer frühen Stunde auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeſchloſſen hatte und jetzt dem Thale zuging, um auf den Wieſen im Vorübergehen nach ſeinen Mähern zu ſehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes Geſicht verrieth, daß ſeine guten Tage gezählt waren.
Er ſchritt kummervoll zu Boden blickend ſeinen Weg dahin. Da rief eine Stimme über ihm, wie mit Donnerton: Sonnenwirth von Ebersbach!
Er fuhr zuſammen und blickte in die Höhe. War das ſein Sohn an dem ſteilen Waldabhange über ihm? Er ſtand auf einer Lichtung, ſo daß die Bäume unter ihm nur bis an ſeine Bruſt reichten und ihn als eine Geſtalt von übermenſchlicher Größe erſcheinen ließen.
Sonnenwirth von Ebersbach! rief er, auf ſein Gewehr geſtützt: wo haſt du deinen Sohn?
Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.
Sieh her! fuhr die Erſcheinung fort, auf ein junges Bäumchen deutend, das ohne Stütze überhing, und dann auf einen knorrig ver¬ krüppelten Baum daneben: ſieh, wenn ich den jungen Schößling in die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, ſo wächſt er aufrecht und luſtig fort, aber an dem alten Knorren, der in ſeiner Jugend verſäumt worden iſt, iſt alle Kunſt verloren. Du haſt deinem Sohn geſagt, du wolleſt ihm die Aeſt' abhauen, wenn er zu krattelig werde. An dem alten verwachſenen Knorren kannſt du ſehen, wie weit du es gebracht haſt. Du haſt deinen Schößling üppig aufwachſen laſſen, da ihm ſtrenge Zucht nöthig war, und zur Zeit des freien Wachs¬ thums haſt du ihn zu Schanden geſchnitten. Dein Bub' iſt jetzt ein Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. — Laß dein Weib nicht für mich beten, wie ſie einmal geſagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft. Wenn du aber glaubſt, alter Mann, daß du dir mit deinem Handel und Wandel eine Anſprache im Himmel eröffnet habeſt, dann bete du für mich. — Meine Zeit iſt um, Vater, Ihr braucht keine Angſt
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[439/0455]
haben. Sie lief auf die Wieſe, wo der Fiſcher den Todesſchuß er¬
halten hatte, und begann ſich an dem von der Senſe verlaſſenen Graſe
zu ergötzen.
Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des
Thälchens den ſchmalen Weg dahergegangen, eine von Alter gebeugte und
gebrochene Geſtalt. Es war der Sonnenwirth, der in dieſer frühen Stunde
auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeſchloſſen hatte und
jetzt dem Thale zuging, um auf den Wieſen im Vorübergehen nach
ſeinen Mähern zu ſehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes
Geſicht verrieth, daß ſeine guten Tage gezählt waren.
Er ſchritt kummervoll zu Boden blickend ſeinen Weg dahin. Da
rief eine Stimme über ihm, wie mit Donnerton: Sonnenwirth von
Ebersbach!
Er fuhr zuſammen und blickte in die Höhe. War das ſein Sohn
an dem ſteilen Waldabhange über ihm? Er ſtand auf einer Lichtung,
ſo daß die Bäume unter ihm nur bis an ſeine Bruſt reichten und ihn
als eine Geſtalt von übermenſchlicher Größe erſcheinen ließen.
Sonnenwirth von Ebersbach! rief er, auf ſein Gewehr geſtützt: wo
haſt du deinen Sohn?
Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.
Sieh her! fuhr die Erſcheinung fort, auf ein junges Bäumchen
deutend, das ohne Stütze überhing, und dann auf einen knorrig ver¬
krüppelten Baum daneben: ſieh, wenn ich den jungen Schößling in
die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, ſo wächſt er aufrecht und
luſtig fort, aber an dem alten Knorren, der in ſeiner Jugend verſäumt
worden iſt, iſt alle Kunſt verloren. Du haſt deinem Sohn geſagt,
du wolleſt ihm die Aeſt' abhauen, wenn er zu krattelig werde.
An dem alten verwachſenen Knorren kannſt du ſehen, wie weit du es
gebracht haſt. Du haſt deinen Schößling üppig aufwachſen laſſen,
da ihm ſtrenge Zucht nöthig war, und zur Zeit des freien Wachs¬
thums haſt du ihn zu Schanden geſchnitten. Dein Bub' iſt jetzt ein
Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. — Laß dein Weib nicht
für mich beten, wie ſie einmal geſagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft.
Wenn du aber glaubſt, alter Mann, daß du dir mit deinem Handel
und Wandel eine Anſprache im Himmel eröffnet habeſt, dann bete
du für mich. — Meine Zeit iſt um, Vater, Ihr braucht keine Angſt
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/455>, abgerufen am 25.11.2024.
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