sein Verwandter durch Wahl, der sogenannte Schneidermichel, der eine Base Christinens sich beigelegt hatte, von ihr aber wegen seines zu fried¬ liebenden Gemüthes verlassen worden war. Dasselbe hatte ihn unter dem zweiten Grenadierbataillon, in das man ihn aus dem Zuchthause "gestoßen" hatte -- der Ausdruck ist amtlich --, in die sogenannte Fuldaer Schlacht begleitet, in welcher er keinen Vorwurf auf sich lud, da er das Schlachtfeld gleichzeitig mit der ganzen Armee, so weit sie nicht gefangen war, und mit dem Kriegsherrn verließ. Nur hatte der Soldat der Reichsarmee, während seine Kameraden in den Winter¬ garnisonen unterkamen, bis zu diesem Tage die Flucht nicht eingestellt. Er bekannte seinem Freunde, daß er herzoglich wirtembergischer De¬ serteur sei, zu seinem bessern Fortkommen das Pferd, das er reite, dem Adlerwirth in Flehingen aus dem Stall genommen habe, und sich nach Hechingen zu wenden Willens sei. Dies redete ihm der Sonnenwirthle aus und sagte, er sei zu Hechingen nicht sicher, er solle lieber mit ihm in das Deutschherrische gehen. Der Andere willigte ein; da er aber als wirtembergischer Deserteur sich auf wirtembergischem Boden so we¬ nig sicher fühlte, als sein Freund auf badischem, so beredete er diesen, das Pferd zu nehmen, mit welchem er sich gleichfalls nicht mehr durch das Badische getraute, weil er es dort gestohlen hatte, in einem kleinen Orte oder auf einem einzelnen Hofe bei Enzweihingen über Nacht zu bleiben und den andern Tag in Heilbronn mit ihm zusammenzutreffen. Mit dieser Verabredung trennten sie sich. Eine Aufmunterung, in Kriegsdienste zu gehen, woran er manchmal in seinem Leben gedacht, konnten die Erzählungen dieses der Fuchtel entlaufenen Soldaten für ihn nicht enthalten. Wenn dagegen der Grenadier den Räuber, wie ohne Zweifel geschehen ist, nach dem Befinden der Bekannten fragte, so konnte dieser ihm eine lange Unglücksliste eröffnen. In der kurzen Zeit dieser drei Jahre hatte der Tod eine reiche Ernte gehalten. Von der Gesellschaft, die er im Walde von Wäschenbeuren getroffen und mit der er sich noch am besten vertragen hatte, lebten nur noch die weiblichen Mitglieder: der scheele Christianus war gehängt, Schwamen¬ jackel geköpft, Bettelmelcher von den Streifwächtern erschossen; und von den Weibern war nur noch eine einzige frei, seine freche Schwä¬ gerin, denn Christine saß in Stein und die alte Anna Maria in Steinbach gefangen. Er selbst hatte die Alte in Gestalt des wandernden Krämers,
ſein Verwandter durch Wahl, der ſogenannte Schneidermichel, der eine Baſe Chriſtinens ſich beigelegt hatte, von ihr aber wegen ſeines zu fried¬ liebenden Gemüthes verlaſſen worden war. Daſſelbe hatte ihn unter dem zweiten Grenadierbataillon, in das man ihn aus dem Zuchthauſe „geſtoßen“ hatte — der Ausdruck iſt amtlich —, in die ſogenannte Fuldaer Schlacht begleitet, in welcher er keinen Vorwurf auf ſich lud, da er das Schlachtfeld gleichzeitig mit der ganzen Armee, ſo weit ſie nicht gefangen war, und mit dem Kriegsherrn verließ. Nur hatte der Soldat der Reichsarmee, während ſeine Kameraden in den Winter¬ garniſonen unterkamen, bis zu dieſem Tage die Flucht nicht eingeſtellt. Er bekannte ſeinem Freunde, daß er herzoglich wirtembergiſcher De¬ ſerteur ſei, zu ſeinem beſſern Fortkommen das Pferd, das er reite, dem Adlerwirth in Flehingen aus dem Stall genommen habe, und ſich nach Hechingen zu wenden Willens ſei. Dies redete ihm der Sonnenwirthle aus und ſagte, er ſei zu Hechingen nicht ſicher, er ſolle lieber mit ihm in das Deutſchherriſche gehen. Der Andere willigte ein; da er aber als wirtembergiſcher Deſerteur ſich auf wirtembergiſchem Boden ſo we¬ nig ſicher fühlte, als ſein Freund auf badiſchem, ſo beredete er dieſen, das Pferd zu nehmen, mit welchem er ſich gleichfalls nicht mehr durch das Badiſche getraute, weil er es dort geſtohlen hatte, in einem kleinen Orte oder auf einem einzelnen Hofe bei Enzweihingen über Nacht zu bleiben und den andern Tag in Heilbronn mit ihm zuſammenzutreffen. Mit dieſer Verabredung trennten ſie ſich. Eine Aufmunterung, in Kriegsdienſte zu gehen, woran er manchmal in ſeinem Leben gedacht, konnten die Erzählungen dieſes der Fuchtel entlaufenen Soldaten für ihn nicht enthalten. Wenn dagegen der Grenadier den Räuber, wie ohne Zweifel geſchehen iſt, nach dem Befinden der Bekannten fragte, ſo konnte dieſer ihm eine lange Unglücksliſte eröffnen. In der kurzen Zeit dieſer drei Jahre hatte der Tod eine reiche Ernte gehalten. Von der Geſellſchaft, die er im Walde von Wäſchenbeuren getroffen und mit der er ſich noch am beſten vertragen hatte, lebten nur noch die weiblichen Mitglieder: der ſcheele Chriſtianus war gehängt, Schwamen¬ jackel geköpft, Bettelmelcher von den Streifwächtern erſchoſſen; und von den Weibern war nur noch eine einzige frei, ſeine freche Schwä¬ gerin, denn Chriſtine ſaß in Stein und die alte Anna Maria in Steinbach gefangen. Er ſelbſt hatte die Alte in Geſtalt des wandernden Krämers,
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ſein Verwandter durch Wahl, der ſogenannte Schneidermichel, der eine
Baſe Chriſtinens ſich beigelegt hatte, von ihr aber wegen ſeines zu fried¬
liebenden Gemüthes verlaſſen worden war. Daſſelbe hatte ihn unter
dem zweiten Grenadierbataillon, in das man ihn aus dem Zuchthauſe
„geſtoßen“ hatte — der Ausdruck iſt amtlich —, in die ſogenannte
Fuldaer Schlacht begleitet, in welcher er keinen Vorwurf auf ſich lud,
da er das Schlachtfeld gleichzeitig mit der ganzen Armee, ſo weit ſie
nicht gefangen war, und mit dem Kriegsherrn verließ. Nur hatte der
Soldat der Reichsarmee, während ſeine Kameraden in den Winter¬
garniſonen unterkamen, bis zu dieſem Tage die Flucht nicht eingeſtellt.
Er bekannte ſeinem Freunde, daß er herzoglich wirtembergiſcher De¬
ſerteur ſei, zu ſeinem beſſern Fortkommen das Pferd, das er reite, dem
Adlerwirth in Flehingen aus dem Stall genommen habe, und ſich nach
Hechingen zu wenden Willens ſei. Dies redete ihm der Sonnenwirthle
aus und ſagte, er ſei zu Hechingen nicht ſicher, er ſolle lieber mit ihm
in das Deutſchherriſche gehen. Der Andere willigte ein; da er aber
als wirtembergiſcher Deſerteur ſich auf wirtembergiſchem Boden ſo we¬
nig ſicher fühlte, als ſein Freund auf badiſchem, ſo beredete er dieſen,
das Pferd zu nehmen, mit welchem er ſich gleichfalls nicht mehr durch
das Badiſche getraute, weil er es dort geſtohlen hatte, in einem kleinen
Orte oder auf einem einzelnen Hofe bei Enzweihingen über Nacht zu
bleiben und den andern Tag in Heilbronn mit ihm zuſammenzutreffen.
Mit dieſer Verabredung trennten ſie ſich. Eine Aufmunterung, in
Kriegsdienſte zu gehen, woran er manchmal in ſeinem Leben gedacht,
konnten die Erzählungen dieſes der Fuchtel entlaufenen Soldaten für
ihn nicht enthalten. Wenn dagegen der Grenadier den Räuber, wie
ohne Zweifel geſchehen iſt, nach dem Befinden der Bekannten fragte, ſo
konnte dieſer ihm eine lange Unglücksliſte eröffnen. In der kurzen
Zeit dieſer drei Jahre hatte der Tod eine reiche Ernte gehalten. Von
der Geſellſchaft, die er im Walde von Wäſchenbeuren getroffen und
mit der er ſich noch am beſten vertragen hatte, lebten nur noch die
weiblichen Mitglieder: der ſcheele Chriſtianus war gehängt, Schwamen¬
jackel geköpft, Bettelmelcher von den Streifwächtern erſchoſſen; und
von den Weibern war nur noch eine einzige frei, ſeine freche Schwä¬
gerin, denn Chriſtine ſaß in Stein und die alte Anna Maria in Steinbach
gefangen. Er ſelbſt hatte die Alte in Geſtalt des wandernden Krämers,
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/470>, abgerufen am 22.11.2024.
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