Und nun vorwärts in Gottes Namen! rief Friedrich, als es ge¬ schehen war.
Auch er sollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn als einen Hauptverbrecher stand die Schleife bereit. Er legte sich und der Henker band ihn an. Nun, der ist barmherzig, sagte er. Er hätte mich härter binden können -- er erspart mir doch einige Schmerzen. Selig sind die Barmherzigen.
Der Zug setzte sich in Bewegung über den Marktplatz. Das Opfer des Verbrechens und des Gesetzes blickte mit seinen hellen Au¬ gen in die Menge, welche der Zug durchschnitt, und lächelte da und dort einem bekannten Gesichte zu. Dann erhob er die Augen und blickte still in den blauen Himmel hinein, bis die zusammentretenden Häuser und die mit Menschen besetzten Fenster der schmalen Straße, in welche der Zug einlenkte, ihn daran verhinderten. Ein menschliches Geschrei oder vielmehr ein Geheul schlug an sein Ohr. Er wußte, was es bedeutete, und sein Auge ward düster. Als er die Stelle er¬ reichte, von wo der Ton zu vernehmen gewesen war, blickte er an einem Hause empor, wo die Leute mit einem in das Tragkissen ge¬ hüllten Kinde am Fenster standen. Es war sein Kind, das hier unter¬ gebracht war, und der Schrei von vorhin war der letzte Schrei des Mutterherzens gewesen, das der verkümmernden kleinen Menschenpflanze jetzt entrissen werden sollte. Er blickte mit inniger Rührung zu dem Kinde empor, rief ihm tausend Liebkosungen zu und segnete es.
Die Fahrt ging langsam weiter durch die endlos lange Straße, die er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Massen von Menschen hindurch, die sich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenstern sahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Thor erreicht, wo er gefangen genommen worden war. Er lächelte, da er es sah, und pries es gegen seine Begleiter als den glücklichsten Ort, den er in seinem Le¬ ben betreten, da hier seine Rettung aus Nacht und Grausen begonnen habe.
Der Zug ging durch das Thor und jetzt sah man die außerhalb im Freien wogenden Menschen, eine zahllose Menge, wie wenn das ganze Herzogthum versammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von höchstem Gewichte zu berathen und berathen zu sehen.
Vor dem Thore stand ein alter Mann, auf seinen Krücken leh¬ nend. Die Thränen floßen ihm in den Stoppelbart, und er sah
Und nun vorwärts in Gottes Namen! rief Friedrich, als es ge¬ ſchehen war.
Auch er ſollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn als einen Hauptverbrecher ſtand die Schleife bereit. Er legte ſich und der Henker band ihn an. Nun, der iſt barmherzig, ſagte er. Er hätte mich härter binden können — er erſpart mir doch einige Schmerzen. Selig ſind die Barmherzigen.
Der Zug ſetzte ſich in Bewegung über den Marktplatz. Das Opfer des Verbrechens und des Geſetzes blickte mit ſeinen hellen Au¬ gen in die Menge, welche der Zug durchſchnitt, und lächelte da und dort einem bekannten Geſichte zu. Dann erhob er die Augen und blickte ſtill in den blauen Himmel hinein, bis die zuſammentretenden Häuſer und die mit Menſchen beſetzten Fenſter der ſchmalen Straße, in welche der Zug einlenkte, ihn daran verhinderten. Ein menſchliches Geſchrei oder vielmehr ein Geheul ſchlug an ſein Ohr. Er wußte, was es bedeutete, und ſein Auge ward düſter. Als er die Stelle er¬ reichte, von wo der Ton zu vernehmen geweſen war, blickte er an einem Hauſe empor, wo die Leute mit einem in das Tragkiſſen ge¬ hüllten Kinde am Fenſter ſtanden. Es war ſein Kind, das hier unter¬ gebracht war, und der Schrei von vorhin war der letzte Schrei des Mutterherzens geweſen, das der verkümmernden kleinen Menſchenpflanze jetzt entriſſen werden ſollte. Er blickte mit inniger Rührung zu dem Kinde empor, rief ihm tauſend Liebkoſungen zu und ſegnete es.
Die Fahrt ging langſam weiter durch die endlos lange Straße, die er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Maſſen von Menſchen hindurch, die ſich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenſtern ſahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Thor erreicht, wo er gefangen genommen worden war. Er lächelte, da er es ſah, und pries es gegen ſeine Begleiter als den glücklichſten Ort, den er in ſeinem Le¬ ben betreten, da hier ſeine Rettung aus Nacht und Grauſen begonnen habe.
Der Zug ging durch das Thor und jetzt ſah man die außerhalb im Freien wogenden Menſchen, eine zahlloſe Menge, wie wenn das ganze Herzogthum verſammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von höchſtem Gewichte zu berathen und berathen zu ſehen.
Vor dem Thore ſtand ein alter Mann, auf ſeinen Krücken leh¬ nend. Die Thränen floßen ihm in den Stoppelbart, und er ſah
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Und nun vorwärts in Gottes Namen! rief Friedrich, als es ge¬
ſchehen war.
Auch er ſollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn
als einen Hauptverbrecher ſtand die Schleife bereit. Er legte ſich und
der Henker band ihn an. Nun, der iſt barmherzig, ſagte er. Er
hätte mich härter binden können — er erſpart mir doch einige Schmerzen.
Selig ſind die Barmherzigen.
Der Zug ſetzte ſich in Bewegung über den Marktplatz. Das
Opfer des Verbrechens und des Geſetzes blickte mit ſeinen hellen Au¬
gen in die Menge, welche der Zug durchſchnitt, und lächelte da und
dort einem bekannten Geſichte zu. Dann erhob er die Augen und
blickte ſtill in den blauen Himmel hinein, bis die zuſammentretenden
Häuſer und die mit Menſchen beſetzten Fenſter der ſchmalen Straße,
in welche der Zug einlenkte, ihn daran verhinderten. Ein menſchliches
Geſchrei oder vielmehr ein Geheul ſchlug an ſein Ohr. Er wußte,
was es bedeutete, und ſein Auge ward düſter. Als er die Stelle er¬
reichte, von wo der Ton zu vernehmen geweſen war, blickte er an
einem Hauſe empor, wo die Leute mit einem in das Tragkiſſen ge¬
hüllten Kinde am Fenſter ſtanden. Es war ſein Kind, das hier unter¬
gebracht war, und der Schrei von vorhin war der letzte Schrei des
Mutterherzens geweſen, das der verkümmernden kleinen Menſchenpflanze
jetzt entriſſen werden ſollte. Er blickte mit inniger Rührung zu dem
Kinde empor, rief ihm tauſend Liebkoſungen zu und ſegnete es.
Die Fahrt ging langſam weiter durch die endlos lange Straße, die
er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Maſſen von
Menſchen hindurch, die ſich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenſtern
ſahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Thor erreicht,
wo er gefangen genommen worden war. Er lächelte, da er es ſah, und
pries es gegen ſeine Begleiter als den glücklichſten Ort, den er in ſeinem Le¬
ben betreten, da hier ſeine Rettung aus Nacht und Grauſen begonnen habe.
Der Zug ging durch das Thor und jetzt ſah man die außerhalb
im Freien wogenden Menſchen, eine zahlloſe Menge, wie wenn das
ganze Herzogthum verſammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von
höchſtem Gewichte zu berathen und berathen zu ſehen.
Vor dem Thore ſtand ein alter Mann, auf ſeinen Krücken leh¬
nend. Die Thränen floßen ihm in den Stoppelbart, und er ſah
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/523>, abgerufen am 25.11.2024.
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