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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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seiner Schwester hatte sich in eine seltsame Bangigkeit verwandelt.
Er fühlte sich ganz im Stich gelassen und begann zu ahnen, daß ihm
das Leben noch harte Nüsse zu knacken geben werde. Daß die Men¬
schen nicht seien, wie sie sein sollten, das war ihm klar geworden;
wie er aber selbst unter solchen Umständen eigentlich sein sollte, das
wußte er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfiel, auch nur die
Frage an sich zu stellen. Mitleid, Angst, Empörung wechselten auf
die wunderlichste Weise in ihm ab, und das Heimweh nach der sichern
Umfriedigung des Zuchthauses kehrte ihm aber und abermals zurück.
Er hatte es mit angesehen, wie neben den Verbrechern auch arme
Waisen zu nicht schimpflicher Arbeit in dasselbe aufgenommen wurden,
und ihr Loos wollte ihn wie ein neidenswerthes Glück bedünken.
Aber mitten unter diesen verschiedenen Regungen fand er noch Raum
genug in seinem Herzen, um mit vielem Behagen an das hübsche Mäd¬
chen zu denken, das ihn heute auf der Straße gegrüßt hatte.


4.

Der Jüngling, dessen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu ver¬
folgen unternommen haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder
betrat, über eine jener unsichtbaren Grenzen geschritten, welche sich
durch die Gesellschaft und durch den einzelnen Menschen selbst hin¬
durchziehen. Er empfand vor seinem Vater, wo nicht Achtung, denn
zu dieser gehört ein ausgebildeteres Bewußtsein, so doch eine unbe¬
stimmte Scheu, ja sogar unter rauher Decke einen Rest kindlicher Zu¬
neigung; und dennoch sagte ihm ein unbestechliches Gefühl, daß er
durch den bloßen Rücktritt aus dem Kreise des Waisenpfarrers in
den Kreis des Sonnenwirthshauses um eine Stufe gefallen sei. Das
Leben war hier ein ganz andres und wies mit seinen alltäglichen
und doch gebieterischen Zwecken so manche Forderung der reifenden
Seele zurück, welche dort, obwohl unter dem einförmigen Frohndienst
des Wollekrämpelns, von einem Geiste, den seine Zeitgenossen aposto¬
lisch nannten, geweckt worden war; aber die fortgesetzte Berührung

ſeiner Schweſter hatte ſich in eine ſeltſame Bangigkeit verwandelt.
Er fühlte ſich ganz im Stich gelaſſen und begann zu ahnen, daß ihm
das Leben noch harte Nüſſe zu knacken geben werde. Daß die Men¬
ſchen nicht ſeien, wie ſie ſein ſollten, das war ihm klar geworden;
wie er aber ſelbſt unter ſolchen Umſtänden eigentlich ſein ſollte, das
wußte er ſo wenig, daß es ihm nicht einmal einfiel, auch nur die
Frage an ſich zu ſtellen. Mitleid, Angſt, Empörung wechſelten auf
die wunderlichſte Weiſe in ihm ab, und das Heimweh nach der ſichern
Umfriedigung des Zuchthauſes kehrte ihm aber und abermals zurück.
Er hatte es mit angeſehen, wie neben den Verbrechern auch arme
Waiſen zu nicht ſchimpflicher Arbeit in daſſelbe aufgenommen wurden,
und ihr Loos wollte ihn wie ein neidenswerthes Glück bedünken.
Aber mitten unter dieſen verſchiedenen Regungen fand er noch Raum
genug in ſeinem Herzen, um mit vielem Behagen an das hübſche Mäd¬
chen zu denken, das ihn heute auf der Straße gegrüßt hatte.


4.

Der Jüngling, deſſen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu ver¬
folgen unternommen haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder
betrat, über eine jener unſichtbaren Grenzen geſchritten, welche ſich
durch die Geſellſchaft und durch den einzelnen Menſchen ſelbſt hin¬
durchziehen. Er empfand vor ſeinem Vater, wo nicht Achtung, denn
zu dieſer gehört ein ausgebildeteres Bewußtſein, ſo doch eine unbe¬
ſtimmte Scheu, ja ſogar unter rauher Decke einen Reſt kindlicher Zu¬
neigung; und dennoch ſagte ihm ein unbeſtechliches Gefühl, daß er
durch den bloßen Rücktritt aus dem Kreiſe des Waiſenpfarrers in
den Kreis des Sonnenwirthshauſes um eine Stufe gefallen ſei. Das
Leben war hier ein ganz andres und wies mit ſeinen alltäglichen
und doch gebieteriſchen Zwecken ſo manche Forderung der reifenden
Seele zurück, welche dort, obwohl unter dem einförmigen Frohndienſt
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[56/0072] ſeiner Schweſter hatte ſich in eine ſeltſame Bangigkeit verwandelt. Er fühlte ſich ganz im Stich gelaſſen und begann zu ahnen, daß ihm das Leben noch harte Nüſſe zu knacken geben werde. Daß die Men¬ ſchen nicht ſeien, wie ſie ſein ſollten, das war ihm klar geworden; wie er aber ſelbſt unter ſolchen Umſtänden eigentlich ſein ſollte, das wußte er ſo wenig, daß es ihm nicht einmal einfiel, auch nur die Frage an ſich zu ſtellen. Mitleid, Angſt, Empörung wechſelten auf die wunderlichſte Weiſe in ihm ab, und das Heimweh nach der ſichern Umfriedigung des Zuchthauſes kehrte ihm aber und abermals zurück. Er hatte es mit angeſehen, wie neben den Verbrechern auch arme Waiſen zu nicht ſchimpflicher Arbeit in daſſelbe aufgenommen wurden, und ihr Loos wollte ihn wie ein neidenswerthes Glück bedünken. Aber mitten unter dieſen verſchiedenen Regungen fand er noch Raum genug in ſeinem Herzen, um mit vielem Behagen an das hübſche Mäd¬ chen zu denken, das ihn heute auf der Straße gegrüßt hatte. 4. Der Jüngling, deſſen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu ver¬ folgen unternommen haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder betrat, über eine jener unſichtbaren Grenzen geſchritten, welche ſich durch die Geſellſchaft und durch den einzelnen Menſchen ſelbſt hin¬ durchziehen. Er empfand vor ſeinem Vater, wo nicht Achtung, denn zu dieſer gehört ein ausgebildeteres Bewußtſein, ſo doch eine unbe¬ ſtimmte Scheu, ja ſogar unter rauher Decke einen Reſt kindlicher Zu¬ neigung; und dennoch ſagte ihm ein unbeſtechliches Gefühl, daß er durch den bloßen Rücktritt aus dem Kreiſe des Waiſenpfarrers in den Kreis des Sonnenwirthshauſes um eine Stufe gefallen ſei. Das Leben war hier ein ganz andres und wies mit ſeinen alltäglichen und doch gebieteriſchen Zwecken ſo manche Forderung der reifenden Seele zurück, welche dort, obwohl unter dem einförmigen Frohndienſt des Wollekrämpelns, von einem Geiſte, den ſeine Zeitgenoſſen apoſto¬ liſch nannten, geweckt worden war; aber die fortgeſetzte Berührung

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/72>, abgerufen am 23.11.2024.