Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Denn "die Menschen lieben sich zu ungleichen Stunden," sagt Rahel. Eine geheime Ahnung flüsterte der Pfarrerin zu, daß die letztere Hypothese die richtige sei, und mit gewohntem Scharfsinn machte sie ihren Mann auf die Fügung aufmerksam, die es mit sich gebracht hatte, daß er seine gewohnte Morgenandacht heute zur ungewohnten Zeit verrichtete, nämlich eine ganze Stunde später als sonst. Da die Ursache dieser Verspätung auch vom spitzfindigsten Leser wohl schwerlich errathen werden wurde, so dürfte es angezeigt sein, einen kurzen Bericht darüber hier einzuflechten. Das Pfarrhaus von A . . . berg hatte gestern die Ehre gehabt, den neuen Decan auf seiner ersten Parochialvisitationsrundreise zu bewirthen. Unser Freund nun, der das wünschenswerth richtige Verhältniß zwischen Pfarrer und Decan besser als wir zu definiren verstand, war von ganzer Seele darauf bedacht gewesen, gleich bei dem so entscheidenden ersten Zusammensein den rechten Ton zu treffen. Sofort nach Empfang der Ankündigung des Visitationsbesuches hatte er an seinen Nachbar, den Pfarrer von Sch......ingen geschrieben, von dem er wußte, daß er ein Jugendfreund der noch unbekannten Größe war, und denselben dringend eingeladen, dem Erwarteten Gesellschaft zu leisten, mit dem Ersuchen, wo möglich etwas früher einzutreffen und ihm selbst über Charakter, Temperamentsqualitäten, Gemüthsneigungen, Angewöhnungen des Fraglichen, besonders je- Denn „die Menschen lieben sich zu ungleichen Stunden,“ sagt Rahel. Eine geheime Ahnung flüsterte der Pfarrerin zu, daß die letztere Hypothese die richtige sei, und mit gewohntem Scharfsinn machte sie ihren Mann auf die Fügung aufmerksam, die es mit sich gebracht hatte, daß er seine gewohnte Morgenandacht heute zur ungewohnten Zeit verrichtete, nämlich eine ganze Stunde später als sonst. Da die Ursache dieser Verspätung auch vom spitzfindigsten Leser wohl schwerlich errathen werden wurde, so dürfte es angezeigt sein, einen kurzen Bericht darüber hier einzuflechten. Das Pfarrhaus von A . . . berg hatte gestern die Ehre gehabt, den neuen Decan auf seiner ersten Parochialvisitationsrundreise zu bewirthen. Unser Freund nun, der das wünschenswerth richtige Verhältniß zwischen Pfarrer und Decan besser als wir zu definiren verstand, war von ganzer Seele darauf bedacht gewesen, gleich bei dem so entscheidenden ersten Zusammensein den rechten Ton zu treffen. Sofort nach Empfang der Ankündigung des Visitationsbesuches hatte er an seinen Nachbar, den Pfarrer von Sch......ingen geschrieben, von dem er wußte, daß er ein Jugendfreund der noch unbekannten Größe war, und denselben dringend eingeladen, dem Erwarteten Gesellschaft zu leisten, mit dem Ersuchen, wo möglich etwas früher einzutreffen und ihm selbst über Charakter, Temperamentsqualitäten, Gemüthsneigungen, Angewöhnungen des Fraglichen, besonders je- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0020"/> Denn „die Menschen lieben sich zu ungleichen Stunden,“ sagt Rahel.</p><lb/> <p>Eine geheime Ahnung flüsterte der Pfarrerin zu, daß die letztere Hypothese die richtige sei, und mit gewohntem Scharfsinn machte sie ihren Mann auf die Fügung aufmerksam, die es mit sich gebracht hatte, daß er seine gewohnte Morgenandacht heute zur ungewohnten Zeit verrichtete, nämlich eine ganze Stunde später als sonst. Da die Ursache dieser Verspätung auch vom spitzfindigsten Leser wohl schwerlich errathen werden wurde, so dürfte es angezeigt sein, einen kurzen Bericht darüber hier einzuflechten.</p><lb/> <p>Das Pfarrhaus von A . . . berg hatte gestern die Ehre gehabt, den neuen Decan auf seiner ersten Parochialvisitationsrundreise zu bewirthen. Unser Freund nun, der das wünschenswerth richtige Verhältniß zwischen Pfarrer und Decan besser als wir zu definiren verstand, war von ganzer Seele darauf bedacht gewesen, gleich bei dem so entscheidenden ersten Zusammensein den rechten Ton zu treffen. Sofort nach Empfang der Ankündigung des Visitationsbesuches hatte er an seinen Nachbar, den Pfarrer von Sch......ingen geschrieben, von dem er wußte, daß er ein Jugendfreund der noch unbekannten Größe war, und denselben dringend eingeladen, dem Erwarteten Gesellschaft zu leisten, mit dem Ersuchen, wo möglich etwas früher einzutreffen und ihm selbst über Charakter, Temperamentsqualitäten, Gemüthsneigungen, Angewöhnungen des Fraglichen, besonders je-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
Denn „die Menschen lieben sich zu ungleichen Stunden,“ sagt Rahel.
Eine geheime Ahnung flüsterte der Pfarrerin zu, daß die letztere Hypothese die richtige sei, und mit gewohntem Scharfsinn machte sie ihren Mann auf die Fügung aufmerksam, die es mit sich gebracht hatte, daß er seine gewohnte Morgenandacht heute zur ungewohnten Zeit verrichtete, nämlich eine ganze Stunde später als sonst. Da die Ursache dieser Verspätung auch vom spitzfindigsten Leser wohl schwerlich errathen werden wurde, so dürfte es angezeigt sein, einen kurzen Bericht darüber hier einzuflechten.
Das Pfarrhaus von A . . . berg hatte gestern die Ehre gehabt, den neuen Decan auf seiner ersten Parochialvisitationsrundreise zu bewirthen. Unser Freund nun, der das wünschenswerth richtige Verhältniß zwischen Pfarrer und Decan besser als wir zu definiren verstand, war von ganzer Seele darauf bedacht gewesen, gleich bei dem so entscheidenden ersten Zusammensein den rechten Ton zu treffen. Sofort nach Empfang der Ankündigung des Visitationsbesuches hatte er an seinen Nachbar, den Pfarrer von Sch......ingen geschrieben, von dem er wußte, daß er ein Jugendfreund der noch unbekannten Größe war, und denselben dringend eingeladen, dem Erwarteten Gesellschaft zu leisten, mit dem Ersuchen, wo möglich etwas früher einzutreffen und ihm selbst über Charakter, Temperamentsqualitäten, Gemüthsneigungen, Angewöhnungen des Fraglichen, besonders je-
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Zitationshilfe: | Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_tubus_1910/20>, abgerufen am 16.07.2024. |