Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Wedle, wedle! rief er der Pfarrerin zu. Diese legte sich, weil sie keinen Raum neben ihm im Fenster hatte, mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf seine rechte Schulter und wedelte mit dem bereit gehaltenen Schnupftuch, so weit sie nur konnte, in die Lüfte hinaus. Vergebens, der Unbekannte nahm keine Notiz von dem Signal. Der Pfarrer gab der Pfarrerin den Tubus, um ihn auf seiner Schulter aufzulegen und die Beobachtungsrolle zu übernehmen, während er selbst mit Hand und Tuch alle seine verfügbaren Kräfte aufbot, um endlich die Aufmerksamkeit des hartnäckigen Blinden zu erobern. Aber was sie auch vornehmen mochten, um ihren Zweck zu erreichen, es blieb alles fruchtlos, und eine saure Stunde war verstrichen, als der Pfarrer mit einem tiefen Seufzer seinen Doppelgänger vom Fenster verschwinden sah. Wo möglich noch unzufriedener, als er, war sie, die ihre Hypothese in dem Augenblicke, da sie so glänzend bestätigt werden sollte, für zwecklos und jedes praktischen Werthes entkleidet erkennen mußte. Daß dieser Tag im Pfarrhause von A . . . berg nicht so heiter wie der vorgestrige und nicht so bewegt wie der gestrige verlief, kann unter den angegebenen Umständen wohl keinem Zweifel unterliegen. Am dritten Morgen, diesmal aber erst um neun Uhr, machte der Pfarrer seinen letzten Versuch. Den Wedle, wedle! rief er der Pfarrerin zu. Diese legte sich, weil sie keinen Raum neben ihm im Fenster hatte, mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf seine rechte Schulter und wedelte mit dem bereit gehaltenen Schnupftuch, so weit sie nur konnte, in die Lüfte hinaus. Vergebens, der Unbekannte nahm keine Notiz von dem Signal. Der Pfarrer gab der Pfarrerin den Tubus, um ihn auf seiner Schulter aufzulegen und die Beobachtungsrolle zu übernehmen, während er selbst mit Hand und Tuch alle seine verfügbaren Kräfte aufbot, um endlich die Aufmerksamkeit des hartnäckigen Blinden zu erobern. Aber was sie auch vornehmen mochten, um ihren Zweck zu erreichen, es blieb alles fruchtlos, und eine saure Stunde war verstrichen, als der Pfarrer mit einem tiefen Seufzer seinen Doppelgänger vom Fenster verschwinden sah. Wo möglich noch unzufriedener, als er, war sie, die ihre Hypothese in dem Augenblicke, da sie so glänzend bestätigt werden sollte, für zwecklos und jedes praktischen Werthes entkleidet erkennen mußte. Daß dieser Tag im Pfarrhause von A . . . berg nicht so heiter wie der vorgestrige und nicht so bewegt wie der gestrige verlief, kann unter den angegebenen Umständen wohl keinem Zweifel unterliegen. Am dritten Morgen, diesmal aber erst um neun Uhr, machte der Pfarrer seinen letzten Versuch. Den <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <pb facs="#f0029"/> <p>Wedle, wedle! rief er der Pfarrerin zu. Diese legte sich, weil sie keinen Raum neben ihm im Fenster hatte, mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf seine rechte Schulter und wedelte mit dem bereit gehaltenen Schnupftuch, so weit sie nur konnte, in die Lüfte hinaus.</p><lb/> <p>Vergebens, der Unbekannte nahm keine Notiz von dem Signal.</p><lb/> <p>Der Pfarrer gab der Pfarrerin den Tubus, um ihn auf seiner Schulter aufzulegen und die Beobachtungsrolle zu übernehmen, während er selbst mit Hand und Tuch alle seine verfügbaren Kräfte aufbot, um endlich die Aufmerksamkeit des hartnäckigen Blinden zu erobern. Aber was sie auch vornehmen mochten, um ihren Zweck zu erreichen, es blieb alles fruchtlos, und eine saure Stunde war verstrichen, als der Pfarrer mit einem tiefen Seufzer seinen Doppelgänger vom Fenster verschwinden sah.</p><lb/> <p>Wo möglich noch unzufriedener, als er, war sie, die ihre Hypothese in dem Augenblicke, da sie so glänzend bestätigt werden sollte, für zwecklos und jedes praktischen Werthes entkleidet erkennen mußte.</p><lb/> <p>Daß dieser Tag im Pfarrhause von A . . . berg nicht so heiter wie der vorgestrige und nicht so bewegt wie der gestrige verlief, kann unter den angegebenen Umständen wohl keinem Zweifel unterliegen.</p><lb/> <p>Am dritten Morgen, diesmal aber erst um neun Uhr, machte der Pfarrer seinen letzten Versuch. Den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
Wedle, wedle! rief er der Pfarrerin zu. Diese legte sich, weil sie keinen Raum neben ihm im Fenster hatte, mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf seine rechte Schulter und wedelte mit dem bereit gehaltenen Schnupftuch, so weit sie nur konnte, in die Lüfte hinaus.
Vergebens, der Unbekannte nahm keine Notiz von dem Signal.
Der Pfarrer gab der Pfarrerin den Tubus, um ihn auf seiner Schulter aufzulegen und die Beobachtungsrolle zu übernehmen, während er selbst mit Hand und Tuch alle seine verfügbaren Kräfte aufbot, um endlich die Aufmerksamkeit des hartnäckigen Blinden zu erobern. Aber was sie auch vornehmen mochten, um ihren Zweck zu erreichen, es blieb alles fruchtlos, und eine saure Stunde war verstrichen, als der Pfarrer mit einem tiefen Seufzer seinen Doppelgänger vom Fenster verschwinden sah.
Wo möglich noch unzufriedener, als er, war sie, die ihre Hypothese in dem Augenblicke, da sie so glänzend bestätigt werden sollte, für zwecklos und jedes praktischen Werthes entkleidet erkennen mußte.
Daß dieser Tag im Pfarrhause von A . . . berg nicht so heiter wie der vorgestrige und nicht so bewegt wie der gestrige verlief, kann unter den angegebenen Umständen wohl keinem Zweifel unterliegen.
Am dritten Morgen, diesmal aber erst um neun Uhr, machte der Pfarrer seinen letzten Versuch. Den
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Zitationshilfe: | Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_tubus_1910/29>, abgerufen am 16.07.2024. |