sammtheit der Nation gemeinsamen Angelegenheiten besorgen soll, auf welche die Einzelstaaten ihre Einwirkung gar nicht zu erstrecken haben."
Ein durch die Einzelstaaten bestelltes Collegium von Bevoll- mächtigten, wie es den Staatenbund charakterisirt, hält Waitz für allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesstaat aus- zuschließen 1).
Das gerade Gegentheil hievon ist richtig. Da die norddeutsche Bundesverfassung diesem Erforderniß des doctrinären Bundesstaats- begriffs durch die Institution des Bundesrathes direct widersprach, so haben sehr zahlreiche Schriftsteller, welche trotzdem den Nordd. Bund als wirklichen Bundesstaat charakterisirten, dieses Erforder- niß für kein wesentliches erachtet, es gleichsam von einem Essen- tiale zu einem Naturale degradirt, so daß es aus historisch-poli- tischen Zweckmäßigkeitsgründen abgeändert werden könne, oder sie haben die Organisation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig erklärt 2). Dies ist eine halbe Wahrheit, eine Verwechslung der species mit dem genus, des Bundesstaates mit dem zusammen- gesetzten Staat.
Der zusammengesetzte Staat oder Staatenstaat verlangt eine Staatsgewalt, welche über den Einzelstaatsgewalten steht und folglichbegrifflich von den letzeren verschieden ist. Sowie aber im Einheitsstaat die Souveränetät nicht immer den gleichen Träger hat, sondern bald der Gesammtheit der Bürger bald einer einzel- nen physischen Person zustehen kann und man darnach die Demo- kratie, die Monarchie u. s. w. unterscheidet, so kann auch die Staatsgewalt im Staatenstaat der Gesammtheit der Mitgliedsstaaten oder Einem von ihnen, (von andern denkbaren, aber nicht prak- tischen Möglichkeiten abgesehen) zustehen. Von einem Bunde spricht man nur im ersten Falle. Es gibt kein einziges Beispiel eines zusammengesetzten Staatswesens, welches man als Bund oder Bundesstaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht den Einzelstaaten ein Antheil an dem Zustandekommen und der Bethätigung des Gesammtstaats-Willens zugestanden hätte 3). Richtig ist daher, daß
1) Politik S. 173 fg.
2) Nachweisungen aus der Literatur in großer Zahl bei Brie S. 175 ff.
3) Vgl. oben S. 72. Auch in der Schweizer-Verf. v. 1848, auf welche man sich gewöhnlich für die entgegengesetzte Ansicht beruft, sind die Kantone
§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
ſammtheit der Nation gemeinſamen Angelegenheiten beſorgen ſoll, auf welche die Einzelſtaaten ihre Einwirkung gar nicht zu erſtrecken haben.“
Ein durch die Einzelſtaaten beſtelltes Collegium von Bevoll- mächtigten, wie es den Staatenbund charakteriſirt, hält Waitz für allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesſtaat aus- zuſchließen 1).
Das gerade Gegentheil hievon iſt richtig. Da die norddeutſche Bundesverfaſſung dieſem Erforderniß des doctrinären Bundesſtaats- begriffs durch die Inſtitution des Bundesrathes direct widerſprach, ſo haben ſehr zahlreiche Schriftſteller, welche trotzdem den Nordd. Bund als wirklichen Bundesſtaat charakteriſirten, dieſes Erforder- niß für kein weſentliches erachtet, es gleichſam von einem Essen- tiale zu einem Naturale degradirt, ſo daß es aus hiſtoriſch-poli- tiſchen Zweckmäßigkeitsgründen abgeändert werden könne, oder ſie haben die Organiſation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig erklärt 2). Dies iſt eine halbe Wahrheit, eine Verwechslung der species mit dem genus, des Bundesſtaates mit dem zuſammen- geſetzten Staat.
Der zuſammengeſetzte Staat oder Staatenſtaat verlangt eine Staatsgewalt, welche über den Einzelſtaatsgewalten ſteht und folglichbegrifflich von den letzeren verſchieden iſt. Sowie aber im Einheitsſtaat die Souveränetät nicht immer den gleichen Träger hat, ſondern bald der Geſammtheit der Bürger bald einer einzel- nen phyſiſchen Perſon zuſtehen kann und man darnach die Demo- kratie, die Monarchie u. ſ. w. unterſcheidet, ſo kann auch die Staatsgewalt im Staatenſtaat der Geſammtheit der Mitgliedsſtaaten oder Einem von ihnen, (von andern denkbaren, aber nicht prak- tiſchen Möglichkeiten abgeſehen) zuſtehen. Von einem Bunde ſpricht man nur im erſten Falle. Es gibt kein einziges Beiſpiel eines zuſammengeſetzten Staatsweſens, welches man als Bund oder Bundesſtaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht den Einzelſtaaten ein Antheil an dem Zuſtandekommen und der Bethätigung des Geſammtſtaats-Willens zugeſtanden hätte 3). Richtig iſt daher, daß
1) Politik S. 173 fg.
2) Nachweiſungen aus der Literatur in großer Zahl bei Brie S. 175 ff.
3) Vgl. oben S. 72. Auch in der Schweizer-Verf. v. 1848, auf welche man ſich gewöhnlich für die entgegengeſetzte Anſicht beruft, ſind die Kantone
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ſammtheit der Nation gemeinſamen Angelegenheiten beſorgen ſoll,
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Ein durch die Einzelſtaaten beſtelltes Collegium von Bevoll-
mächtigten, wie es den Staatenbund charakteriſirt, hält Waitz für
allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesſtaat aus-
zuſchließen 1).
Das gerade Gegentheil hievon iſt richtig. Da die norddeutſche
Bundesverfaſſung dieſem Erforderniß des doctrinären Bundesſtaats-
begriffs durch die Inſtitution des Bundesrathes direct widerſprach,
ſo haben ſehr zahlreiche Schriftſteller, welche trotzdem den Nordd.
Bund als wirklichen Bundesſtaat charakteriſirten, dieſes Erforder-
niß für kein weſentliches erachtet, es gleichſam von einem Essen-
tiale zu einem Naturale degradirt, ſo daß es aus hiſtoriſch-poli-
tiſchen Zweckmäßigkeitsgründen abgeändert werden könne, oder ſie
haben die Organiſation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig
erklärt 2). Dies iſt eine halbe Wahrheit, eine Verwechslung der
species mit dem genus, des Bundesſtaates mit dem zuſammen-
geſetzten Staat.
Der zuſammengeſetzte Staat oder Staatenſtaat verlangt eine
Staatsgewalt, welche über den Einzelſtaatsgewalten ſteht und
folglich begrifflich von den letzeren verſchieden iſt. Sowie aber
im Einheitsſtaat die Souveränetät nicht immer den gleichen Träger
hat, ſondern bald der Geſammtheit der Bürger bald einer einzel-
nen phyſiſchen Perſon zuſtehen kann und man darnach die Demo-
kratie, die Monarchie u. ſ. w. unterſcheidet, ſo kann auch die
Staatsgewalt im Staatenſtaat der Geſammtheit der Mitgliedsſtaaten
oder Einem von ihnen, (von andern denkbaren, aber nicht prak-
tiſchen Möglichkeiten abgeſehen) zuſtehen. Von einem Bunde
ſpricht man nur im erſten Falle. Es gibt kein einziges Beiſpiel
eines zuſammengeſetzten Staatsweſens, welches man als Bund oder
Bundesſtaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht den Einzelſtaaten
ein Antheil an dem Zuſtandekommen und der Bethätigung des
Geſammtſtaats-Willens zugeſtanden hätte 3). Richtig iſt daher, daß
1) Politik S. 173 fg.
2) Nachweiſungen aus der Literatur in großer Zahl bei Brie S. 175 ff.
3) Vgl. oben S. 72. Auch in der Schweizer-Verf. v. 1848, auf welche
man ſich gewöhnlich für die entgegengeſetzte Anſicht beruft, ſind die Kantone
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/102>, abgerufen am 24.11.2024.
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