Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die
Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet sein, beide können
mit Vorsatz oder aus Fahrlässigkeit begangen werden; die Schwere
des Vergehens unterscheidet sie nicht, denn es giebt geringfügige
Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht sind; für den
Thatbestand der Amtsvergehen und für den Thatbestand der Dienst-
vergehen giebt es keinen logischen Gegensatz, der beide Begriffe von
einander zu scheiden vermag. Die Verfolgung der strafbaren Hand-
lungen ist eine Pflicht des Staates, welcher sich die dazu bestellten Be-
hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin ist in
das Ermessen der Behörden gestellt; sie können Nachsicht üben und
Pflichtverletzungen hingehen lassen; Disciplinarvergehen können
demnach keine Unterart der Kriminalvergehen sein.

Alle diese Schwierigkeiten sind die Folgen des falschen Aus-
gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwischen dem Kriminal-
recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit
besteht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht
werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge-
gensatz und in der Vergleichung zum Strafrecht, sondern zum
Privatrecht suchen. Er fällt zusammen mit dem Gegensatz der
obligatorischen Vertragsverhältnisse und der Gewaltsverhältnisse.

In contractlichen Verhältnissen hat jeder Theil gegen den
andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Ersatz des Interesse
wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes
dolose oder culpose Verhalten eines Kontrahenten, durch welches
er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Leistung vereitelt,
begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das
Interesse.

Bei den Dienstverhältnissen oder Gewaltverhältnissen dagegen
tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle
der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt ist das Recht zur
Ausübung dieses Zwanges. Es bestand im Mittelalter gegen
Lehnsmannen und gegen Ministerialen; es bestand bis in die
neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dienstboten; es besteht
noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in
dem Recht des Schiffsführers gegen die Mannschaft, im Heere
und in der Marine. Hierin liegt auch das Wesen der Discipli-
nargewalt des Staates gegen seine Beamte; es ist das Mittel,

Laband, Reichsstaatsrecht. I. 29

§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die
Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet ſein, beide können
mit Vorſatz oder aus Fahrläſſigkeit begangen werden; die Schwere
des Vergehens unterſcheidet ſie nicht, denn es giebt geringfügige
Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht ſind; für den
Thatbeſtand der Amtsvergehen und für den Thatbeſtand der Dienſt-
vergehen giebt es keinen logiſchen Gegenſatz, der beide Begriffe von
einander zu ſcheiden vermag. Die Verfolgung der ſtrafbaren Hand-
lungen iſt eine Pflicht des Staates, welcher ſich die dazu beſtellten Be-
hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin iſt in
das Ermeſſen der Behörden geſtellt; ſie können Nachſicht üben und
Pflichtverletzungen hingehen laſſen; Disciplinarvergehen können
demnach keine Unterart der Kriminalvergehen ſein.

Alle dieſe Schwierigkeiten ſind die Folgen des falſchen Aus-
gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwiſchen dem Kriminal-
recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit
beſteht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht
werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge-
genſatz und in der Vergleichung zum Strafrecht, ſondern zum
Privatrecht ſuchen. Er fällt zuſammen mit dem Gegenſatz der
obligatoriſchen Vertragsverhältniſſe und der Gewaltsverhältniſſe.

In contractlichen Verhältniſſen hat jeder Theil gegen den
andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Erſatz des Intereſſe
wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes
doloſe oder culpoſe Verhalten eines Kontrahenten, durch welches
er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Leiſtung vereitelt,
begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das
Intereſſe.

Bei den Dienſtverhältniſſen oder Gewaltverhältniſſen dagegen
tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle
der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt iſt das Recht zur
Ausübung dieſes Zwanges. Es beſtand im Mittelalter gegen
Lehnsmannen und gegen Miniſterialen; es beſtand bis in die
neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dienſtboten; es beſteht
noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in
dem Recht des Schiffsführers gegen die Mannſchaft, im Heere
und in der Marine. Hierin liegt auch das Weſen der Discipli-
nargewalt des Staates gegen ſeine Beamte; es iſt das Mittel,

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 29
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0469" n="449"/><fw place="top" type="header">§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.</fw><lb/>
können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die<lb/>
Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet &#x017F;ein, beide können<lb/>
mit Vor&#x017F;atz oder aus Fahrlä&#x017F;&#x017F;igkeit begangen werden; die Schwere<lb/>
des Vergehens unter&#x017F;cheidet &#x017F;ie nicht, denn es giebt geringfügige<lb/>
Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht &#x017F;ind; für den<lb/>
Thatbe&#x017F;tand der Amtsvergehen und für den Thatbe&#x017F;tand der Dien&#x017F;t-<lb/>
vergehen giebt es keinen logi&#x017F;chen Gegen&#x017F;atz, der beide Begriffe von<lb/>
einander zu &#x017F;cheiden vermag. Die Verfolgung der &#x017F;trafbaren Hand-<lb/>
lungen i&#x017F;t eine Pflicht des Staates, welcher &#x017F;ich die dazu be&#x017F;tellten Be-<lb/>
hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin i&#x017F;t in<lb/>
das Erme&#x017F;&#x017F;en der Behörden ge&#x017F;tellt; &#x017F;ie können Nach&#x017F;icht üben und<lb/>
Pflichtverletzungen hingehen la&#x017F;&#x017F;en; Disciplinarvergehen können<lb/>
demnach keine Unterart der Kriminalvergehen &#x017F;ein.</p><lb/>
                <p>Alle die&#x017F;e Schwierigkeiten &#x017F;ind die Folgen des fal&#x017F;chen Aus-<lb/>
gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwi&#x017F;chen dem Kriminal-<lb/>
recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit<lb/>
be&#x017F;teht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht<lb/>
werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge-<lb/>
gen&#x017F;atz und in der Vergleichung zum Strafrecht, &#x017F;ondern zum<lb/>
Privatrecht &#x017F;uchen. Er fällt zu&#x017F;ammen mit dem Gegen&#x017F;atz der<lb/>
obligatori&#x017F;chen Vertragsverhältni&#x017F;&#x017F;e und der Gewaltsverhältni&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
                <p>In contractlichen Verhältni&#x017F;&#x017F;en hat jeder Theil gegen den<lb/>
andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Er&#x017F;atz des Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes<lb/>
dolo&#x017F;e oder culpo&#x017F;e Verhalten eines Kontrahenten, durch welches<lb/>
er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Lei&#x017F;tung vereitelt,<lb/>
begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
                <p>Bei den Dien&#x017F;tverhältni&#x017F;&#x017F;en oder Gewaltverhältni&#x017F;&#x017F;en dagegen<lb/>
tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle<lb/>
der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt i&#x017F;t das Recht zur<lb/>
Ausübung die&#x017F;es Zwanges. Es be&#x017F;tand im Mittelalter gegen<lb/>
Lehnsmannen und gegen Mini&#x017F;terialen; es be&#x017F;tand bis in die<lb/>
neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dien&#x017F;tboten; es be&#x017F;teht<lb/>
noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in<lb/>
dem Recht des Schiffsführers gegen die Mann&#x017F;chaft, im Heere<lb/>
und in der Marine. Hierin liegt auch das We&#x017F;en der Discipli-<lb/>
nargewalt des Staates gegen &#x017F;eine Beamte; es i&#x017F;t das Mittel,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Laband</hi>, Reichs&#x017F;taatsrecht. <hi rendition="#aq">I.</hi> 29</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[449/0469] §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet ſein, beide können mit Vorſatz oder aus Fahrläſſigkeit begangen werden; die Schwere des Vergehens unterſcheidet ſie nicht, denn es giebt geringfügige Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht ſind; für den Thatbeſtand der Amtsvergehen und für den Thatbeſtand der Dienſt- vergehen giebt es keinen logiſchen Gegenſatz, der beide Begriffe von einander zu ſcheiden vermag. Die Verfolgung der ſtrafbaren Hand- lungen iſt eine Pflicht des Staates, welcher ſich die dazu beſtellten Be- hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin iſt in das Ermeſſen der Behörden geſtellt; ſie können Nachſicht üben und Pflichtverletzungen hingehen laſſen; Disciplinarvergehen können demnach keine Unterart der Kriminalvergehen ſein. Alle dieſe Schwierigkeiten ſind die Folgen des falſchen Aus- gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwiſchen dem Kriminal- recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit beſteht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge- genſatz und in der Vergleichung zum Strafrecht, ſondern zum Privatrecht ſuchen. Er fällt zuſammen mit dem Gegenſatz der obligatoriſchen Vertragsverhältniſſe und der Gewaltsverhältniſſe. In contractlichen Verhältniſſen hat jeder Theil gegen den andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Erſatz des Intereſſe wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes doloſe oder culpoſe Verhalten eines Kontrahenten, durch welches er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Leiſtung vereitelt, begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das Intereſſe. Bei den Dienſtverhältniſſen oder Gewaltverhältniſſen dagegen tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt iſt das Recht zur Ausübung dieſes Zwanges. Es beſtand im Mittelalter gegen Lehnsmannen und gegen Miniſterialen; es beſtand bis in die neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dienſtboten; es beſteht noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in dem Recht des Schiffsführers gegen die Mannſchaft, im Heere und in der Marine. Hierin liegt auch das Weſen der Discipli- nargewalt des Staates gegen ſeine Beamte; es iſt das Mittel, Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 29

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/469
Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/469>, abgerufen am 24.11.2024.