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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte.
der Tribüne entsteht, anordnen, daß Alle, die sich zur Zeit darauf
befinden, die Tribüne räumen 1).

b) "Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den
öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant-
wortlichkeit frei". R.-V. Art. 22 Abs. 2. Reichsstr.-Ges.-B. §. 12.
Im Falle einer Anklage ist vom Richter festzustellen, ob ein Bericht
"wahrheitsgetreu" ist; auszugsweise Berichte über die Verhand-
lungen können in so tendenziöser Art verfaßt sein, daß sie, ob-
gleich sie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge-
sprochen oder geschehen ist, dennoch den Sinn der gethanen
Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zusammenhange fälschen
und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten sind. Noch viel
weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur
Verlesung gekommenen Aktenstückes oder eines Satzes aus einer
Rede als ein "Bericht über Verhandlungen" erachtet werden 2).

Der Satz der Verfassung schließt nicht nur eine gerichtliche
Verfolgung, sondern "jede Verantwortlichkeit" aus, mithin auch eine
disciplinarische, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt ist.
Er bezieht sich ferner auf jede Art von Berichten, also insbesondere
auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Versammlungen
erstattet werden. Seine wichtigste Anwendung aber findet er in
Ansehung der durch die Presse verbreiteten Berichte.

Nach vielen Verfassungen ist es dem Landtage überlassen, durch
einen Beschluß die Oeffentlichkeit auszuschließen; so z. B. auch durch
die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfassung hat eine
solche Bestimmung nicht. Die Geschäfts-Ordnung §. 33 sucht dies
zwar nachzuholen, indem dieser Paragraph fast wörtlich dem Art.
79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen ist; gegenüber der bestimmten
Vorschrift des Art. 22 der R.-V. aber ist diese Bestimmung der
Geschäfts-Ordnung rechtsunwirksam. Es steht zwar nichts ent-
gegen, daß sich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be-
sprechung unter Ausschluß der Oeffentlichkeit versammeln, der staats-
rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt

1) Gesch.-Ordn. §§. 59--61.
2) Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entsprechen-
den §. 38 des Pr. Preßgesetzes v. 12. Mai 1851 bei Hiersemenzel I.
S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgesetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.
Laband, Reichsstaatsrecht. I. 36

§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf
befinden, die Tribüne räumen 1).

b) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den
öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant-
wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr.-Geſ.-B. §. 12.
Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht
„wahrheitsgetreu“ iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand-
lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob-
gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge-
ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen
Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen
und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel
weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur
Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer
Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden 2).

Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche
Verfolgung, ſondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine
disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt.
Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere
auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen
erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in
Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte.

Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch
einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch
die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine
ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies
zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art.
79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten
Vorſchrift des Art. 22 der R.-V. aber iſt dieſe Beſtimmung der
Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent-
gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be-
ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats-
rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt

1) Geſch.-Ordn. §§. 59—61.
2) Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen-
den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei Hierſemenzel I.
S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 36
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[561/0581] §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte. der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf befinden, die Tribüne räumen 1). b) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant- wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr.-Geſ.-B. §. 12. Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht „wahrheitsgetreu“ iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand- lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob- gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge- ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden 2). Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche Verfolgung, ſondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt. Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte. Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art. 79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten Vorſchrift des Art. 22 der R.-V. aber iſt dieſe Beſtimmung der Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent- gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be- ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats- rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt 1) Geſch.-Ordn. §§. 59—61. 2) Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen- den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei Hierſemenzel I. S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12. Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 36

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/581>, abgerufen am 22.11.2024.