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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes.
ten und ursprünglichen Sinne des Wortes, eine wahre und wirk-
liche lex specialis.

Auch für die Reichsgesetzgebung gelten diese, aus dem Begriffe
des Gesetzes sich herleitenden Regeln; und wenngleich die Reichs-
verfassung eine Bestimmung darüber nicht enthält, so haben sie
doch unzweifelhaft Anerkennung und Anwendung gefunden. Ver-
waltungsacte, z. B. die Ernennungen der Reichsbeamten, sind nie-
mals unter dem Gesichtspunkt der lex specialis aufzufassen, auch
wenn der gemeine Sprachgebrauch sie selbst oder die aus ihnen
hervorgehenden Berechtigungen als Privilegien bezeichnet; anderer-
seits ist die Anordnung eines Rechtssatzes ein Gesetz auch dann,
wenn der Rechtssatz nur auf einen einzigen Fall anwendbar ist.
Beispiele für solche Specialgesetze sind das Gesetz vom 21. Juli
1870 (B.G.-Bl. S. 498) über die Verlängerung der Legislatur-
Periode des am 31. August 1867 gewählten Reichstages; das
Gesetz v. 24. Dez. 1874 (R.-G.-Bl. S. 194) über die geschäftliche
Behandlung der Entwürfe des Gerichtsverfassungsgesetzes und der
beiden Prozeß-Ordnungen 1), sowie die Gesetze über die Kontrole
der Staatsrechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlassen worden
sind 2).

2) Ein Gesetz enthält eine Rechtsregel, aber es ist zum Be-
griff eines Gesetzes nicht genügend, daß lediglich ein Rechtssatz
formulirt wird. Die Constatirung, daß ein Rechtssatz bestehe, oder
daß er zweckmäßig oder vernünftig sei, oder daß seine Einführung
beantragt oder beschlossen sei, ist wesentlich verschieden von einem
Gesetz. Der im Gesetz zu Tage tretende Wille ist stets ein Be-
fehl
, daß der in dem Gesetz enthaltene Rechtssatz befolgt werden
soll. Jedes Gesetz ist eine Anordnung und setzt das iubeo des

1) Vgl. darüber Bd. I. S. 557 fg. Ferner die entsprechenden Gesetze vom
1. Febr. 1876 und vom 20. Febr. 1876 (R.G.-Bl. S. 15. 23.).
2) Vergl. Bd. I. S. 356 Note 1. Ferner gehört hierher das Gesetz vom
11. Juni 1870 (B.G.-Bl. S. 416); insofern es Mecklenburg-Schwerin und An-
halt eine Abfindung für die Aufhebung des Elbzolles gewährt, begründet es
zugleich subjective Rechte dieser Staaten gegen den Reichsfiscus. Andererseits
enthält das Ges. vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts im §. 1
ein privilegium onerosum, indem es die im §. 8 des Einf.-Ges. zum Gerichts-
verfassungsges. anerkannte Rechtsbefugniß der Einzelstaaten zur Errichtung eines
obersten Landesgerichtes dem Königreich Sachsen entzieht.

§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
ten und urſprünglichen Sinne des Wortes, eine wahre und wirk-
liche lex specialis.

Auch für die Reichsgeſetzgebung gelten dieſe, aus dem Begriffe
des Geſetzes ſich herleitenden Regeln; und wenngleich die Reichs-
verfaſſung eine Beſtimmung darüber nicht enthält, ſo haben ſie
doch unzweifelhaft Anerkennung und Anwendung gefunden. Ver-
waltungsacte, z. B. die Ernennungen der Reichsbeamten, ſind nie-
mals unter dem Geſichtspunkt der lex specialis aufzufaſſen, auch
wenn der gemeine Sprachgebrauch ſie ſelbſt oder die aus ihnen
hervorgehenden Berechtigungen als Privilegien bezeichnet; anderer-
ſeits iſt die Anordnung eines Rechtsſatzes ein Geſetz auch dann,
wenn der Rechtsſatz nur auf einen einzigen Fall anwendbar iſt.
Beiſpiele für ſolche Specialgeſetze ſind das Geſetz vom 21. Juli
1870 (B.G.-Bl. S. 498) über die Verlängerung der Legislatur-
Periode des am 31. Auguſt 1867 gewählten Reichstages; das
Geſetz v. 24. Dez. 1874 (R.-G.-Bl. S. 194) über die geſchäftliche
Behandlung der Entwürfe des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der
beiden Prozeß-Ordnungen 1), ſowie die Geſetze über die Kontrole
der Staatsrechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlaſſen worden
ſind 2).

2) Ein Geſetz enthält eine Rechtsregel, aber es iſt zum Be-
griff eines Geſetzes nicht genügend, daß lediglich ein Rechtsſatz
formulirt wird. Die Conſtatirung, daß ein Rechtsſatz beſtehe, oder
daß er zweckmäßig oder vernünftig ſei, oder daß ſeine Einführung
beantragt oder beſchloſſen ſei, iſt weſentlich verſchieden von einem
Geſetz. Der im Geſetz zu Tage tretende Wille iſt ſtets ein Be-
fehl
, daß der in dem Geſetz enthaltene Rechtsſatz befolgt werden
ſoll. Jedes Geſetz iſt eine Anordnung und ſetzt das iubeo des

1) Vgl. darüber Bd. I. S. 557 fg. Ferner die entſprechenden Geſetze vom
1. Febr. 1876 und vom 20. Febr. 1876 (R.G.-Bl. S. 15. 23.).
2) Vergl. Bd. I. S. 356 Note 1. Ferner gehört hierher das Geſetz vom
11. Juni 1870 (B.G.-Bl. S. 416); inſofern es Mecklenburg-Schwerin und An-
halt eine Abfindung für die Aufhebung des Elbzolles gewährt, begründet es
zugleich ſubjective Rechte dieſer Staaten gegen den Reichsfiscus. Andererſeits
enthält das Geſ. vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts im §. 1
ein privilegium onerosum, indem es die im §. 8 des Einf.-Geſ. zum Gerichts-
verfaſſungsgeſ. anerkannte Rechtsbefugniß der Einzelſtaaten zur Errichtung eines
oberſten Landesgerichtes dem Königreich Sachſen entzieht.
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[4/0018] §. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes. ten und urſprünglichen Sinne des Wortes, eine wahre und wirk- liche lex specialis. Auch für die Reichsgeſetzgebung gelten dieſe, aus dem Begriffe des Geſetzes ſich herleitenden Regeln; und wenngleich die Reichs- verfaſſung eine Beſtimmung darüber nicht enthält, ſo haben ſie doch unzweifelhaft Anerkennung und Anwendung gefunden. Ver- waltungsacte, z. B. die Ernennungen der Reichsbeamten, ſind nie- mals unter dem Geſichtspunkt der lex specialis aufzufaſſen, auch wenn der gemeine Sprachgebrauch ſie ſelbſt oder die aus ihnen hervorgehenden Berechtigungen als Privilegien bezeichnet; anderer- ſeits iſt die Anordnung eines Rechtsſatzes ein Geſetz auch dann, wenn der Rechtsſatz nur auf einen einzigen Fall anwendbar iſt. Beiſpiele für ſolche Specialgeſetze ſind das Geſetz vom 21. Juli 1870 (B.G.-Bl. S. 498) über die Verlängerung der Legislatur- Periode des am 31. Auguſt 1867 gewählten Reichstages; das Geſetz v. 24. Dez. 1874 (R.-G.-Bl. S. 194) über die geſchäftliche Behandlung der Entwürfe des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der beiden Prozeß-Ordnungen 1), ſowie die Geſetze über die Kontrole der Staatsrechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlaſſen worden ſind 2). 2) Ein Geſetz enthält eine Rechtsregel, aber es iſt zum Be- griff eines Geſetzes nicht genügend, daß lediglich ein Rechtsſatz formulirt wird. Die Conſtatirung, daß ein Rechtsſatz beſtehe, oder daß er zweckmäßig oder vernünftig ſei, oder daß ſeine Einführung beantragt oder beſchloſſen ſei, iſt weſentlich verſchieden von einem Geſetz. Der im Geſetz zu Tage tretende Wille iſt ſtets ein Be- fehl, daß der in dem Geſetz enthaltene Rechtsſatz befolgt werden ſoll. Jedes Geſetz iſt eine Anordnung und ſetzt das iubeo des 1) Vgl. darüber Bd. I. S. 557 fg. Ferner die entſprechenden Geſetze vom 1. Febr. 1876 und vom 20. Febr. 1876 (R.G.-Bl. S. 15. 23.). 2) Vergl. Bd. I. S. 356 Note 1. Ferner gehört hierher das Geſetz vom 11. Juni 1870 (B.G.-Bl. S. 416); inſofern es Mecklenburg-Schwerin und An- halt eine Abfindung für die Aufhebung des Elbzolles gewährt, begründet es zugleich ſubjective Rechte dieſer Staaten gegen den Reichsfiscus. Andererſeits enthält das Geſ. vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts im §. 1 ein privilegium onerosum, indem es die im §. 8 des Einf.-Geſ. zum Gerichts- verfaſſungsgeſ. anerkannte Rechtsbefugniß der Einzelſtaaten zur Errichtung eines oberſten Landesgerichtes dem Königreich Sachſen entzieht.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/18>, abgerufen am 21.11.2024.