Die in Rede stehende Theorie führt auch zu absurden Resul- taten; sie könnte dazu mißbraucht werden, die Mitwirkung des Reichstages an der Reichsgesetzgebung gänzlich illusorisch zu machen. Denn der Begriff eines Ausführungsgesetzes ist ein äußerst unbe- stimmter und dehnbarer; unter dem Vorgeben, daß gewisse Rechts- vorschriften zur Ausführung anderer Gesetzesbestimmungen dienen, ließen sich mancherlei Rechtsregeln aufstellen, die nur in losem Zu- sammenhange mit dem zur Ausführung zu bringenden Gesetze stehen. Ja es läßt sich mit Grund behaupten, daß fast sämmtliche Reichsgesetze zur Ausführung der Reichsverfassung dienen, ihr ge- genüber nur Ausführungsbestimmungen enthalten, und man würde damit zu dem Schluß gelangen, daß jedes innerhalb der verfas- sungsmäßigen Kompetenz des Reiches sich haltende Gesetz eben so wohl in der Form der Gesetzgebung als in der Form der Ver- ordnung nach dem Belieben der Reichsregierung erlassen werden könnte, wofern nur in dem letzteren Falle das Gesetz als Ausfüh- rungsbestimmung zu diesem oder jenem Artikel der R.-V. bezeichnet wird. Der Grundsatz, daß Gesetze im materiellen Sinne (Rechts- vorschriften) im Wege der Gesetzgebung zu erlassen sind, also zu- gleich Gesetze im formellen Sinne sein sollen, ist in der Reichsverf. als selbstverständlich vorausgesetzt; ebenso wie in der Preuß. Verf.- Urk. Art. 62 und der Mehrzahl der "constitutionellen" Verfassungen. Während aber die Preuß. Verf.-Urk. im Art. 45 dem Könige den Erlaß von Ausführungs-Verordnungen ohne Einschränkungen über- trägt, hat die Reichsverfassung keine entsprechende Bestimmung.
Ebenso wenig wie die R.-V. den Erlaß von Ausführungs- gesetzen im Verordnungswege für zulässig erklärt, enthält sie eine Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen mit interimi- stischer Gesetzeskraft, durch welche reichsgesetzlich anerkannte Rechtssätze zeitweilig abgeändert oder aufgehoben werden könnten. Nur insoweit nach Art. 68 der R.-V. der Kaiser einen Theil des Bundesgebietes in Kriegszustand erklären darf, ist demselben die Befugniß eingeräumt, den gesetzlichen Rechtszustand nach Vorschrift des Preuß. Gesetzes v. 4. Juni 1851 zeitweise abzuändern. In der Literatur des Reichsstaatsrechts herrscht darüber auch Einver- ständniß, daß Verordnungen, welche Reichsgesetzen gegenüber dero- gatorische Kraft hätten (contra legem), oder welche reichsgesetzlich nicht geregelte Rechtsmaterien normiren und neues Recht schaffen
§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Die in Rede ſtehende Theorie führt auch zu abſurden Reſul- taten; ſie könnte dazu mißbraucht werden, die Mitwirkung des Reichstages an der Reichsgeſetzgebung gänzlich illuſoriſch zu machen. Denn der Begriff eines Ausführungsgeſetzes iſt ein äußerſt unbe- ſtimmter und dehnbarer; unter dem Vorgeben, daß gewiſſe Rechts- vorſchriften zur Ausführung anderer Geſetzesbeſtimmungen dienen, ließen ſich mancherlei Rechtsregeln aufſtellen, die nur in loſem Zu- ſammenhange mit dem zur Ausführung zu bringenden Geſetze ſtehen. Ja es läßt ſich mit Grund behaupten, daß faſt ſämmtliche Reichsgeſetze zur Ausführung der Reichsverfaſſung dienen, ihr ge- genüber nur Ausführungsbeſtimmungen enthalten, und man würde damit zu dem Schluß gelangen, daß jedes innerhalb der verfaſ- ſungsmäßigen Kompetenz des Reiches ſich haltende Geſetz eben ſo wohl in der Form der Geſetzgebung als in der Form der Ver- ordnung nach dem Belieben der Reichsregierung erlaſſen werden könnte, wofern nur in dem letzteren Falle das Geſetz als Ausfüh- rungsbeſtimmung zu dieſem oder jenem Artikel der R.-V. bezeichnet wird. Der Grundſatz, daß Geſetze im materiellen Sinne (Rechts- vorſchriften) im Wege der Geſetzgebung zu erlaſſen ſind, alſo zu- gleich Geſetze im formellen Sinne ſein ſollen, iſt in der Reichsverf. als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt; ebenſo wie in der Preuß. Verf.- Urk. Art. 62 und der Mehrzahl der „conſtitutionellen“ Verfaſſungen. Während aber die Preuß. Verf.-Urk. im Art. 45 dem Könige den Erlaß von Ausführungs-Verordnungen ohne Einſchränkungen über- trägt, hat die Reichsverfaſſung keine entſprechende Beſtimmung.
Ebenſo wenig wie die R.-V. den Erlaß von Ausführungs- geſetzen im Verordnungswege für zuläſſig erklärt, enthält ſie eine Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen mit interimi- ſtiſcher Geſetzeskraft, durch welche reichsgeſetzlich anerkannte Rechtsſätze zeitweilig abgeändert oder aufgehoben werden könnten. Nur inſoweit nach Art. 68 der R.-V. der Kaiſer einen Theil des Bundesgebietes in Kriegszuſtand erklären darf, iſt demſelben die Befugniß eingeräumt, den geſetzlichen Rechtszuſtand nach Vorſchrift des Preuß. Geſetzes v. 4. Juni 1851 zeitweiſe abzuändern. In der Literatur des Reichsſtaatsrechts herrſcht darüber auch Einver- ſtändniß, daß Verordnungen, welche Reichsgeſetzen gegenüber dero- gatoriſche Kraft hätten (contra legem), oder welche reichsgeſetzlich nicht geregelte Rechtsmaterien normiren und neues Recht ſchaffen
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§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Die in Rede ſtehende Theorie führt auch zu abſurden Reſul-
taten; ſie könnte dazu mißbraucht werden, die Mitwirkung des
Reichstages an der Reichsgeſetzgebung gänzlich illuſoriſch zu machen.
Denn der Begriff eines Ausführungsgeſetzes iſt ein äußerſt unbe-
ſtimmter und dehnbarer; unter dem Vorgeben, daß gewiſſe Rechts-
vorſchriften zur Ausführung anderer Geſetzesbeſtimmungen dienen,
ließen ſich mancherlei Rechtsregeln aufſtellen, die nur in loſem Zu-
ſammenhange mit dem zur Ausführung zu bringenden Geſetze ſtehen.
Ja es läßt ſich mit Grund behaupten, daß faſt ſämmtliche
Reichsgeſetze zur Ausführung der Reichsverfaſſung dienen, ihr ge-
genüber nur Ausführungsbeſtimmungen enthalten, und man würde
damit zu dem Schluß gelangen, daß jedes innerhalb der verfaſ-
ſungsmäßigen Kompetenz des Reiches ſich haltende Geſetz eben ſo
wohl in der Form der Geſetzgebung als in der Form der Ver-
ordnung nach dem Belieben der Reichsregierung erlaſſen werden
könnte, wofern nur in dem letzteren Falle das Geſetz als Ausfüh-
rungsbeſtimmung zu dieſem oder jenem Artikel der R.-V. bezeichnet
wird. Der Grundſatz, daß Geſetze im materiellen Sinne (Rechts-
vorſchriften) im Wege der Geſetzgebung zu erlaſſen ſind, alſo zu-
gleich Geſetze im formellen Sinne ſein ſollen, iſt in der Reichsverf.
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt; ebenſo wie in der Preuß. Verf.-
Urk. Art. 62 und der Mehrzahl der „conſtitutionellen“ Verfaſſungen.
Während aber die Preuß. Verf.-Urk. im Art. 45 dem Könige den
Erlaß von Ausführungs-Verordnungen ohne Einſchränkungen über-
trägt, hat die Reichsverfaſſung keine entſprechende Beſtimmung.
Ebenſo wenig wie die R.-V. den Erlaß von Ausführungs-
geſetzen im Verordnungswege für zuläſſig erklärt, enthält ſie eine
Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen mit interimi-
ſtiſcher Geſetzeskraft, durch welche reichsgeſetzlich anerkannte
Rechtsſätze zeitweilig abgeändert oder aufgehoben werden könnten.
Nur inſoweit nach Art. 68 der R.-V. der Kaiſer einen Theil des
Bundesgebietes in Kriegszuſtand erklären darf, iſt demſelben die
Befugniß eingeräumt, den geſetzlichen Rechtszuſtand nach Vorſchrift
des Preuß. Geſetzes v. 4. Juni 1851 zeitweiſe abzuändern. In
der Literatur des Reichsſtaatsrechts herrſcht darüber auch Einver-
ſtändniß, daß Verordnungen, welche Reichsgeſetzen gegenüber dero-
gatoriſche Kraft hätten (contra legem), oder welche reichsgeſetzlich
nicht geregelte Rechtsmaterien normiren und neues Recht ſchaffen
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/87>, abgerufen am 04.12.2024.
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