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Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 2. Riga, 1771.

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XXII. Hauptstück.
im Einfachen kömmt von Widersprüchen die Rede
gar nicht vor (§. 243.), und die Möglichkeit darinn
ist nicht die kleinste, sondern schlechthin absolut. Der
Widerspruch mißt die Möglichkeit nicht aus, weil er
aus allem Möglichen schlechthin wegbleiben muß.
Will man aber, wie es bey der Berechnung des
Wahrscheinlichen geschieht, von Graden der Mög-
lichkeit reden, ob nämlich etwas möglicher sey, als
das andere, so versteht man dadurch nicht die Gradus
intensitatis,
sondern ob es auf mehrere Arten mög-
lich sey, das ist, geschehen könne, ob mehrerley
Mittel da sind, ob es häufiger und öfters vorkom-
me etc. und so wird die Berechnung des leichter und
öfter Möglichen auf das gleich Mögliche reducirt,
(Phänomenol. §. 153. seqq.). Auf diese Art aber
sieht man deutlich, was man eigentlich will, und zu-
gleich auch, wie man es finden könne. Und dadurch
wird, als durch ein Beyspiel erläutert, was wir oben
(§. 451.) angemerket haben, daß, wo der Philo-
soph etwas auszumessen vorgiebt, der Mathe-
matiker gemeiniglich vorerst dabey etwas aus
einander zu lesen, das Unmögliche und Absur-
de wegzulassen, und das übrige in eine ver-
ständlichere und deutlichere Sprache zu über-
setzen habe, wenn er der in der Mathematic so
sehr gerühmten Evidenz nichts vergeben will.

Es ist für den Philosophen ein Unglück hiebey, daß
man ohne die Mathesin auf eine durchaus und im
strengsten Verstande wissenschaftliche Art erlernet zu
haben, von allem diesem keine deutliche Begriffe ha-
ben kann, und daß er ohne diese deutliche Begriffe
zu haben, von seinen an sich klar scheinenden Begrif-
fen nicht abgeht, sondern den Mathematiker vielmehr
beschuldiget, daß dieser der Einbildungskraft zu viel

einräume,

XXII. Hauptſtuͤck.
im Einfachen koͤmmt von Widerſpruͤchen die Rede
gar nicht vor (§. 243.), und die Moͤglichkeit darinn
iſt nicht die kleinſte, ſondern ſchlechthin abſolut. Der
Widerſpruch mißt die Moͤglichkeit nicht aus, weil er
aus allem Moͤglichen ſchlechthin wegbleiben muß.
Will man aber, wie es bey der Berechnung des
Wahrſcheinlichen geſchieht, von Graden der Moͤg-
lichkeit reden, ob naͤmlich etwas moͤglicher ſey, als
das andere, ſo verſteht man dadurch nicht die Gradus
intenſitatis,
ſondern ob es auf mehrere Arten moͤg-
lich ſey, das iſt, geſchehen koͤnne, ob mehrerley
Mittel da ſind, ob es haͤufiger und oͤfters vorkom-
me ꝛc. und ſo wird die Berechnung des leichter und
oͤfter Moͤglichen auf das gleich Moͤgliche reducirt,
(Phaͤnomenol. §. 153. ſeqq.). Auf dieſe Art aber
ſieht man deutlich, was man eigentlich will, und zu-
gleich auch, wie man es finden koͤnne. Und dadurch
wird, als durch ein Beyſpiel erlaͤutert, was wir oben
(§. 451.) angemerket haben, daß, wo der Philo-
ſoph etwas auszumeſſen vorgiebt, der Mathe-
matiker gemeiniglich vorerſt dabey etwas aus
einander zu leſen, das Unmoͤgliche und Abſur-
de wegzulaſſen, und das uͤbrige in eine ver-
ſtaͤndlichere und deutlichere Sprache zu uͤber-
ſetzen habe, wenn er der in der Mathematic ſo
ſehr geruͤhmten Evidenz nichts vergeben will.

Es iſt fuͤr den Philoſophen ein Ungluͤck hiebey, daß
man ohne die Matheſin auf eine durchaus und im
ſtrengſten Verſtande wiſſenſchaftliche Art erlernet zu
haben, von allem dieſem keine deutliche Begriffe ha-
ben kann, und daß er ohne dieſe deutliche Begriffe
zu haben, von ſeinen an ſich klar ſcheinenden Begrif-
fen nicht abgeht, ſondern den Mathematiker vielmehr
beſchuldiget, daß dieſer der Einbildungskraft zu viel

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[308/0316] XXII. Hauptſtuͤck. im Einfachen koͤmmt von Widerſpruͤchen die Rede gar nicht vor (§. 243.), und die Moͤglichkeit darinn iſt nicht die kleinſte, ſondern ſchlechthin abſolut. Der Widerſpruch mißt die Moͤglichkeit nicht aus, weil er aus allem Moͤglichen ſchlechthin wegbleiben muß. Will man aber, wie es bey der Berechnung des Wahrſcheinlichen geſchieht, von Graden der Moͤg- lichkeit reden, ob naͤmlich etwas moͤglicher ſey, als das andere, ſo verſteht man dadurch nicht die Gradus intenſitatis, ſondern ob es auf mehrere Arten moͤg- lich ſey, das iſt, geſchehen koͤnne, ob mehrerley Mittel da ſind, ob es haͤufiger und oͤfters vorkom- me ꝛc. und ſo wird die Berechnung des leichter und oͤfter Moͤglichen auf das gleich Moͤgliche reducirt, (Phaͤnomenol. §. 153. ſeqq.). Auf dieſe Art aber ſieht man deutlich, was man eigentlich will, und zu- gleich auch, wie man es finden koͤnne. Und dadurch wird, als durch ein Beyſpiel erlaͤutert, was wir oben (§. 451.) angemerket haben, daß, wo der Philo- ſoph etwas auszumeſſen vorgiebt, der Mathe- matiker gemeiniglich vorerſt dabey etwas aus einander zu leſen, das Unmoͤgliche und Abſur- de wegzulaſſen, und das uͤbrige in eine ver- ſtaͤndlichere und deutlichere Sprache zu uͤber- ſetzen habe, wenn er der in der Mathematic ſo ſehr geruͤhmten Evidenz nichts vergeben will. Es iſt fuͤr den Philoſophen ein Ungluͤck hiebey, daß man ohne die Matheſin auf eine durchaus und im ſtrengſten Verſtande wiſſenſchaftliche Art erlernet zu haben, von allem dieſem keine deutliche Begriffe ha- ben kann, und daß er ohne dieſe deutliche Begriffe zu haben, von ſeinen an ſich klar ſcheinenden Begrif- fen nicht abgeht, ſondern den Mathematiker vielmehr beſchuldiget, daß dieſer der Einbildungskraft zu viel einraͤume,

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 2. Riga, 1771, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic02_1771/316>, abgerufen am 22.11.2024.