geometrischen Lehrgebäude als Grundsätze ange- nommen.
§. 615.
Kann man sich aber von der Wahrheit des ange- nommenen Vordersatzes nicht versichern, so geht auch diese Art zu verfahren nicht an, und die Sache bleibt dahin gestellt. Man kehrt sie daher um, und an- statt die beyden Fragmente oder Erfahrungen aus einander herzuleiten, oder von einander abhängig finden zu wollen, sucht man, wie- fern sie selbst allgemein gemacht werden kön- nen. Denn bisher haben wir dieses unbestimmt ge- lassen. Was nun hiebey zu thun ist, haben wir be- relts im vorhergehenden Hauptstücke (§. 591 seqq.) angezeigt. Gelingt es damit, so erlangt man aller- dings Erfahrungssätze, die allgemein sind, und die sich folglich sodann in unzählig vielen Schlußreden als Vordersätze gebrauchen, und bey jedem vorkom- menden Fall anwenden lassen. Die vorhin (§. 611.) häufig angeführten Beyspiele mögen auch hier zur Erläuterung dienen. Wir merken nur noch an, daß, wenn solche allgemeine Erfahrungssätze Gesetze der Natur sind, nach welchen sie sich in ihren Wirkun- gen richtet, ihr Gebrauch ungleich wichtiger ist, weil dadurch ein Zustand durch den vorhergehenden be- stimmt wird. (§. 95.) Auf diese Art ist das von Locke angegebene Gesetz der Einbildungskraft in der Psychologie von ausgedehntem Gebrauche; und seit dem Torricelli, Guericke und Mariotte, das Maaß und die Gesetze der Schwere und der Feder- kraft der Luft entdeckt haben, lassen sich ungemein viele Wirkungen und Veränderungen in der Natur ohne weitere Erfahrung voraus bestimmen.
§. 616.
IX. Hauptſtuͤck,
geometriſchen Lehrgebaͤude als Grundſaͤtze ange- nommen.
§. 615.
Kann man ſich aber von der Wahrheit des ange- nommenen Vorderſatzes nicht verſichern, ſo geht auch dieſe Art zu verfahren nicht an, und die Sache bleibt dahin geſtellt. Man kehrt ſie daher um, und an- ſtatt die beyden Fragmente oder Erfahrungen aus einander herzuleiten, oder von einander abhaͤngig finden zu wollen, ſucht man, wie- fern ſie ſelbſt allgemein gemacht werden koͤn- nen. Denn bisher haben wir dieſes unbeſtimmt ge- laſſen. Was nun hiebey zu thun iſt, haben wir be- relts im vorhergehenden Hauptſtuͤcke (§. 591 ſeqq.) angezeigt. Gelingt es damit, ſo erlangt man aller- dings Erfahrungsſaͤtze, die allgemein ſind, und die ſich folglich ſodann in unzaͤhlig vielen Schlußreden als Vorderſaͤtze gebrauchen, und bey jedem vorkom- menden Fall anwenden laſſen. Die vorhin (§. 611.) haͤufig angefuͤhrten Beyſpiele moͤgen auch hier zur Erlaͤuterung dienen. Wir merken nur noch an, daß, wenn ſolche allgemeine Erfahrungsſaͤtze Geſetze der Natur ſind, nach welchen ſie ſich in ihren Wirkun- gen richtet, ihr Gebrauch ungleich wichtiger iſt, weil dadurch ein Zuſtand durch den vorhergehenden be- ſtimmt wird. (§. 95.) Auf dieſe Art iſt das von Locke angegebene Geſetz der Einbildungskraft in der Pſychologie von ausgedehntem Gebrauche; und ſeit dem Torricelli, Guericke und Mariotte, das Maaß und die Geſetze der Schwere und der Feder- kraft der Luft entdeckt haben, laſſen ſich ungemein viele Wirkungen und Veraͤnderungen in der Natur ohne weitere Erfahrung voraus beſtimmen.
§. 616.
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IX. Hauptſtuͤck,
geometriſchen Lehrgebaͤude als Grundſaͤtze ange-
nommen.
§. 615.
Kann man ſich aber von der Wahrheit des ange-
nommenen Vorderſatzes nicht verſichern, ſo geht auch
dieſe Art zu verfahren nicht an, und die Sache bleibt
dahin geſtellt. Man kehrt ſie daher um, und an-
ſtatt die beyden Fragmente oder Erfahrungen
aus einander herzuleiten, oder von einander
abhaͤngig finden zu wollen, ſucht man, wie-
fern ſie ſelbſt allgemein gemacht werden koͤn-
nen. Denn bisher haben wir dieſes unbeſtimmt ge-
laſſen. Was nun hiebey zu thun iſt, haben wir be-
relts im vorhergehenden Hauptſtuͤcke (§. 591 ſeqq.)
angezeigt. Gelingt es damit, ſo erlangt man aller-
dings Erfahrungsſaͤtze, die allgemein ſind, und die
ſich folglich ſodann in unzaͤhlig vielen Schlußreden
als Vorderſaͤtze gebrauchen, und bey jedem vorkom-
menden Fall anwenden laſſen. Die vorhin (§. 611.)
haͤufig angefuͤhrten Beyſpiele moͤgen auch hier zur
Erlaͤuterung dienen. Wir merken nur noch an, daß,
wenn ſolche allgemeine Erfahrungsſaͤtze Geſetze der
Natur ſind, nach welchen ſie ſich in ihren Wirkun-
gen richtet, ihr Gebrauch ungleich wichtiger iſt, weil
dadurch ein Zuſtand durch den vorhergehenden be-
ſtimmt wird. (§. 95.) Auf dieſe Art iſt das von
Locke angegebene Geſetz der Einbildungskraft in der
Pſychologie von ausgedehntem Gebrauche; und ſeit
dem Torricelli, Guericke und Mariotte, das
Maaß und die Geſetze der Schwere und der Feder-
kraft der Luft entdeckt haben, laſſen ſich ungemein
viele Wirkungen und Veraͤnderungen in der Natur
ohne weitere Erfahrung voraus beſtimmen.
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/418>, abgerufen am 24.11.2024.
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