Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Hauptstück, von den einfachen
so lange können wir auch auf ihr Daseyn einen
Schluß machen. Die magnetische Materie ist uns
noch weiter nicht, als auf diese Art bekannt, weil
sie, so viel wir noch wissen, keine empfindbare Wir-
kung unmittelbar auf die Sinnen macht, wiewohl
man dermalen sich bemüht, sie mit der electrischen
Materie und beyde mit der Materie, so sich im Unge-
witter entzündet, zu vergleichen. Allein in dieser
Absicht sind wir ungefehr wie der Blinde, der aus
dem Schatten an die Sonne tritt, und ihre Wärme,
aber nicht ihr Licht empfindet, oder wie ein Tauber,
der an den Redenden die Bewegung der Lippen, Zähne
und Zunge sieht, ohne von dem Schall und den arti-
culirten Tönen der Worte einen Begriff zu haben.

§. 58.

Um diese Vergleichung, die uns in Bestimmung
der Gränzen unsrer Erkenntniß einiges Licht geben
kann, etwas weiter fortzusetzen, wollen wir die Er-
kenntniß eines Blinden, der die übrigen Sinnen
hat, mit der Erkenntniß eines Sehenden so gegen-
einander halten, daß wir finden mögen, ob die
Lücken, die der Blinde in seiner Erkenntniß mit der
Erkenntniß des Sehenden verglichen hat, nicht von
solcher Art seyn, daß sie uns auch noch in des sehen-
den Erkenntniß ganz ähnliche Lücken können vermu-
then machen. Wir wollen Sanderson, den Ge-
lehrtesten unter allen Blinden aufführen, und ihm,
wo es nöthig ist, Newton zum Lehrer geben, um
das, was vielleicht in 1000 und mehr Jahren unter
einer sich selbst überlassenen Nation von lauter Blinden
kaum möglich wäre, nach und nach durch Versuche
und Schlüße herauszubringen, dem Sanderson
durch schickliche Anleitung in kurzer Zeit finden zu
machen. Dieser Gelehrte, der es weit genug brachte,

die

I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
ſo lange koͤnnen wir auch auf ihr Daſeyn einen
Schluß machen. Die magnetiſche Materie iſt uns
noch weiter nicht, als auf dieſe Art bekannt, weil
ſie, ſo viel wir noch wiſſen, keine empfindbare Wir-
kung unmittelbar auf die Sinnen macht, wiewohl
man dermalen ſich bemuͤht, ſie mit der electriſchen
Materie und beyde mit der Materie, ſo ſich im Unge-
witter entzuͤndet, zu vergleichen. Allein in dieſer
Abſicht ſind wir ungefehr wie der Blinde, der aus
dem Schatten an die Sonne tritt, und ihre Waͤrme,
aber nicht ihr Licht empfindet, oder wie ein Tauber,
der an den Redenden die Bewegung der Lippen, Zaͤhne
und Zunge ſieht, ohne von dem Schall und den arti-
culirten Toͤnen der Worte einen Begriff zu haben.

§. 58.

Um dieſe Vergleichung, die uns in Beſtimmung
der Graͤnzen unſrer Erkenntniß einiges Licht geben
kann, etwas weiter fortzuſetzen, wollen wir die Er-
kenntniß eines Blinden, der die uͤbrigen Sinnen
hat, mit der Erkenntniß eines Sehenden ſo gegen-
einander halten, daß wir finden moͤgen, ob die
Luͤcken, die der Blinde in ſeiner Erkenntniß mit der
Erkenntniß des Sehenden verglichen hat, nicht von
ſolcher Art ſeyn, daß ſie uns auch noch in des ſehen-
den Erkenntniß ganz aͤhnliche Luͤcken koͤnnen vermu-
then machen. Wir wollen Sanderſon, den Ge-
lehrteſten unter allen Blinden auffuͤhren, und ihm,
wo es noͤthig iſt, Newton zum Lehrer geben, um
das, was vielleicht in 1000 und mehr Jahren unter
einer ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Nation von lauter Blinden
kaum moͤglich waͤre, nach und nach durch Verſuche
und Schluͤße herauszubringen, dem Sanderſon
durch ſchickliche Anleitung in kurzer Zeit finden zu
machen. Dieſer Gelehrte, der es weit genug brachte,

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0512" n="490"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck, von den einfachen</hi></fw><lb/>
&#x017F;o lange ko&#x0364;nnen wir auch auf ihr Da&#x017F;eyn einen<lb/>
Schluß machen. Die magneti&#x017F;che Materie i&#x017F;t uns<lb/>
noch weiter nicht, als auf die&#x017F;e Art bekannt, weil<lb/>
&#x017F;ie, &#x017F;o viel wir noch wi&#x017F;&#x017F;en, keine empfindbare Wir-<lb/>
kung unmittelbar auf die Sinnen macht, wiewohl<lb/>
man dermalen &#x017F;ich bemu&#x0364;ht, &#x017F;ie mit der electri&#x017F;chen<lb/>
Materie und beyde mit der Materie, &#x017F;o &#x017F;ich im Unge-<lb/>
witter entzu&#x0364;ndet, zu vergleichen. Allein in die&#x017F;er<lb/>
Ab&#x017F;icht &#x017F;ind wir ungefehr wie der Blinde, der aus<lb/>
dem Schatten an die Sonne tritt, und ihre Wa&#x0364;rme,<lb/>
aber nicht ihr Licht empfindet, oder wie ein Tauber,<lb/>
der an den Redenden die Bewegung der Lippen, Za&#x0364;hne<lb/>
und Zunge &#x017F;ieht, ohne von dem Schall und den arti-<lb/>
culirten To&#x0364;nen der Worte einen Begriff zu haben.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 58.</head><lb/>
            <p>Um die&#x017F;e Vergleichung, die uns in Be&#x017F;timmung<lb/>
der Gra&#x0364;nzen un&#x017F;rer Erkenntniß einiges Licht geben<lb/>
kann, etwas weiter fortzu&#x017F;etzen, wollen wir die Er-<lb/>
kenntniß eines Blinden, der die u&#x0364;brigen Sinnen<lb/>
hat, mit der Erkenntniß eines Sehenden &#x017F;o gegen-<lb/>
einander halten, daß wir finden mo&#x0364;gen, ob die<lb/>
Lu&#x0364;cken, die der Blinde in &#x017F;einer Erkenntniß mit der<lb/>
Erkenntniß des Sehenden verglichen hat, nicht von<lb/>
&#x017F;olcher Art &#x017F;eyn, daß &#x017F;ie uns auch noch in des &#x017F;ehen-<lb/>
den Erkenntniß ganz a&#x0364;hnliche Lu&#x0364;cken ko&#x0364;nnen vermu-<lb/>
then machen. Wir wollen <hi rendition="#fr">Sander&#x017F;on,</hi> den Ge-<lb/>
lehrte&#x017F;ten unter allen Blinden auffu&#x0364;hren, und ihm,<lb/>
wo es no&#x0364;thig i&#x017F;t, <hi rendition="#fr">Newton</hi> zum Lehrer geben, um<lb/>
das, was vielleicht in 1000 und mehr Jahren unter<lb/>
einer &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;enen Nation von lauter Blinden<lb/>
kaum mo&#x0364;glich wa&#x0364;re, nach und nach durch Ver&#x017F;uche<lb/>
und Schlu&#x0364;ße herauszubringen, dem <hi rendition="#fr">Sander&#x017F;on</hi><lb/>
durch &#x017F;chickliche Anleitung in kurzer Zeit finden zu<lb/>
machen. Die&#x017F;er Gelehrte, der es weit genug brachte,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[490/0512] I. Hauptſtuͤck, von den einfachen ſo lange koͤnnen wir auch auf ihr Daſeyn einen Schluß machen. Die magnetiſche Materie iſt uns noch weiter nicht, als auf dieſe Art bekannt, weil ſie, ſo viel wir noch wiſſen, keine empfindbare Wir- kung unmittelbar auf die Sinnen macht, wiewohl man dermalen ſich bemuͤht, ſie mit der electriſchen Materie und beyde mit der Materie, ſo ſich im Unge- witter entzuͤndet, zu vergleichen. Allein in dieſer Abſicht ſind wir ungefehr wie der Blinde, der aus dem Schatten an die Sonne tritt, und ihre Waͤrme, aber nicht ihr Licht empfindet, oder wie ein Tauber, der an den Redenden die Bewegung der Lippen, Zaͤhne und Zunge ſieht, ohne von dem Schall und den arti- culirten Toͤnen der Worte einen Begriff zu haben. §. 58. Um dieſe Vergleichung, die uns in Beſtimmung der Graͤnzen unſrer Erkenntniß einiges Licht geben kann, etwas weiter fortzuſetzen, wollen wir die Er- kenntniß eines Blinden, der die uͤbrigen Sinnen hat, mit der Erkenntniß eines Sehenden ſo gegen- einander halten, daß wir finden moͤgen, ob die Luͤcken, die der Blinde in ſeiner Erkenntniß mit der Erkenntniß des Sehenden verglichen hat, nicht von ſolcher Art ſeyn, daß ſie uns auch noch in des ſehen- den Erkenntniß ganz aͤhnliche Luͤcken koͤnnen vermu- then machen. Wir wollen Sanderſon, den Ge- lehrteſten unter allen Blinden auffuͤhren, und ihm, wo es noͤthig iſt, Newton zum Lehrer geben, um das, was vielleicht in 1000 und mehr Jahren unter einer ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Nation von lauter Blinden kaum moͤglich waͤre, nach und nach durch Verſuche und Schluͤße herauszubringen, dem Sanderſon durch ſchickliche Anleitung in kurzer Zeit finden zu machen. Dieſer Gelehrte, der es weit genug brachte, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/512
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/512>, abgerufen am 22.11.2024.