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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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VI. Hauptstück.
Sprache machen. Die mindern Grade der Affecte
mischen sich in die ganze Rede und ihre Wendungen,
und in den Ton der Aussprache, welche bloß durch die
Veränderung des Schwunges eine und eben die Re-
densart, z. E. ich sollte das thun, bald zu einer
bloßen Erzählung, bald zur Anzeige der Verwun-
derung,
der Jndignation, Entrüstung, Verla-
chung, Verspottung
etc. macht, und zu diesem Ende
den Ton bald auf dem einen bald auf dem andern
Worte ruhen läßt (§. 99.). Die Wendungen der Re-
de, die von den Affecten herrühren, hat man in der
Redekunst und Dichtkunst gesammelt, und sie in Wort-
figuren
und Sachfiguren eingetheilt, weil sie zum
Pathetischen oder zum Leben der Rede viel beytragen.
Man nennt sie Figuren oder Schemata, weil sie gewis-
sermaßen Formeln sind, nach welchen Worte und Ge-
danken eingerichtet werden, und dadurch eine Gestalt,
Bildung und Wendung bekommen. Jn so ferne liegt
auch etwas Charakteristisches darinn, welches aber mehr
für die Begehrungskräfte als für die Erkenntniß-
kräfte
ist. Es ist noch dermalen nicht so vollständig,
daß dabey die Theorie der Zeichen statt der Theorie der
Sache sollte dienen können (§. 23.). Man weiß näm-
lich nur aus der Erfahrung, daß die rednerischen Figu-
ren theils die Sprache der Leidenschaften sind, theils
auch Leidenschaften erregen können, und daher sind auch
ihre Formeln nur aus der Erfahrung. So fern aber
in der Construction der Worte und der Wendung der
Gedanken gewisse Harmonie, Ordnung, Wiederholung,
Abwechslung etc. seyn kann, welche theils dem Ohr,
theils dem Verstande gefällt, so ferne kann auch das
Charakteristische in diesen Figuren, und eben so auch in
jeden rednerischen und dichterischen Perioden wissenschaft-
licher werden.

§. 220.

VI. Hauptſtuͤck.
Sprache machen. Die mindern Grade der Affecte
miſchen ſich in die ganze Rede und ihre Wendungen,
und in den Ton der Ausſprache, welche bloß durch die
Veraͤnderung des Schwunges eine und eben die Re-
densart, z. E. ich ſollte das thun, bald zu einer
bloßen Erzaͤhlung, bald zur Anzeige der Verwun-
derung,
der Jndignation, Entruͤſtung, Verla-
chung, Verſpottung
ꝛc. macht, und zu dieſem Ende
den Ton bald auf dem einen bald auf dem andern
Worte ruhen laͤßt (§. 99.). Die Wendungen der Re-
de, die von den Affecten herruͤhren, hat man in der
Redekunſt und Dichtkunſt geſammelt, und ſie in Wort-
figuren
und Sachfiguren eingetheilt, weil ſie zum
Pathetiſchen oder zum Leben der Rede viel beytragen.
Man nennt ſie Figuren oder Schemata, weil ſie gewiſ-
ſermaßen Formeln ſind, nach welchen Worte und Ge-
danken eingerichtet werden, und dadurch eine Geſtalt,
Bildung und Wendung bekommen. Jn ſo ferne liegt
auch etwas Charakteriſtiſches darinn, welches aber mehr
fuͤr die Begehrungskraͤfte als fuͤr die Erkenntniß-
kraͤfte
iſt. Es iſt noch dermalen nicht ſo vollſtaͤndig,
daß dabey die Theorie der Zeichen ſtatt der Theorie der
Sache ſollte dienen koͤnnen (§. 23.). Man weiß naͤm-
lich nur aus der Erfahrung, daß die redneriſchen Figu-
ren theils die Sprache der Leidenſchaften ſind, theils
auch Leidenſchaften erregen koͤnnen, und daher ſind auch
ihre Formeln nur aus der Erfahrung. So fern aber
in der Conſtruction der Worte und der Wendung der
Gedanken gewiſſe Harmonie, Ordnung, Wiederholung,
Abwechslung ꝛc. ſeyn kann, welche theils dem Ohr,
theils dem Verſtande gefaͤllt, ſo ferne kann auch das
Charakteriſtiſche in dieſen Figuren, und eben ſo auch in
jeden redneriſchen und dichteriſchen Perioden wiſſenſchaft-
licher werden.

§. 220.
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[130/0136] VI. Hauptſtuͤck. Sprache machen. Die mindern Grade der Affecte miſchen ſich in die ganze Rede und ihre Wendungen, und in den Ton der Ausſprache, welche bloß durch die Veraͤnderung des Schwunges eine und eben die Re- densart, z. E. ich ſollte das thun, bald zu einer bloßen Erzaͤhlung, bald zur Anzeige der Verwun- derung, der Jndignation, Entruͤſtung, Verla- chung, Verſpottung ꝛc. macht, und zu dieſem Ende den Ton bald auf dem einen bald auf dem andern Worte ruhen laͤßt (§. 99.). Die Wendungen der Re- de, die von den Affecten herruͤhren, hat man in der Redekunſt und Dichtkunſt geſammelt, und ſie in Wort- figuren und Sachfiguren eingetheilt, weil ſie zum Pathetiſchen oder zum Leben der Rede viel beytragen. Man nennt ſie Figuren oder Schemata, weil ſie gewiſ- ſermaßen Formeln ſind, nach welchen Worte und Ge- danken eingerichtet werden, und dadurch eine Geſtalt, Bildung und Wendung bekommen. Jn ſo ferne liegt auch etwas Charakteriſtiſches darinn, welches aber mehr fuͤr die Begehrungskraͤfte als fuͤr die Erkenntniß- kraͤfte iſt. Es iſt noch dermalen nicht ſo vollſtaͤndig, daß dabey die Theorie der Zeichen ſtatt der Theorie der Sache ſollte dienen koͤnnen (§. 23.). Man weiß naͤm- lich nur aus der Erfahrung, daß die redneriſchen Figu- ren theils die Sprache der Leidenſchaften ſind, theils auch Leidenſchaften erregen koͤnnen, und daher ſind auch ihre Formeln nur aus der Erfahrung. So fern aber in der Conſtruction der Worte und der Wendung der Gedanken gewiſſe Harmonie, Ordnung, Wiederholung, Abwechslung ꝛc. ſeyn kann, welche theils dem Ohr, theils dem Verſtande gefaͤllt, ſo ferne kann auch das Charakteriſtiſche in dieſen Figuren, und eben ſo auch in jeden redneriſchen und dichteriſchen Perioden wiſſenſchaft- licher werden. §. 220.

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/136>, abgerufen am 10.05.2024.