§. 348. Das Mittel, solche Wortstreite und bloß scheinbare Beweise zu vermeiden, ist nun eben das, so wir vorhin (§. 346.) angegeben haben. Man muß das Willkührliche in dem Umfang der Begriffe aufhe- ben, und eine Art von Nothwendigkeit dabey einführen, folglich jeden Begriff so bestimmen, daß er für sich ein nettes und vollständiges Ganzes vorstelle. Man sehe, was wir in dem dritten Hauptstücke der Alethiologie (§. 135-158.) hierüber angemerkt haben. Man kann überhaupt auch anrathen, in abstracten Wissenschaften die Anzahl der Kunstwörter lieber zu vermindern als zu vermehren. Sie dienen auch meistens nur zur Abkür- zung der Ausdrücke, und verwandeln diese Kürze meh- rentheils in eine Dunkelheit und wenigstens scheinbaren Wortkram, weil nicht jeder sich die Mühe nimmt, sich alle die Wörter und ihre Definitionen so genau bekannt zu machen. So ist z. E. in der scholastischen Welt- weisheit viel Nützliches. Es liegt aber unter einem fast ungeheuern Wortkrame gleichsam begraben.
§. 349. Wir haben ferner bereits schon in der Ale- thiologie (§. 156.) angemerkt, daß die Sprache lange nicht genug Wörter für jede Begriffe und ihre Modifi- cationen hat, und daß man daher gleichsam genöthigt ist, die Wörter der Sprache stuffenweise metaphorisch zu machen, bis sie bald vieldeutig werden, und einen unbestimmten Umfang in ihrer Bedeutung bekommen, der sich in jeden einzeln Fällen aus dem Zusammen- hange der Rede näher bestimmt, daferne es nicht un- mittelbarer durch eine Definition geschieht, wodurch man anzeigt, was man in einem vorgegebenen Falle durch dieses oder jenes Wort verstehe. Solche Defi- nitionen sind nun auf eine viel unmittelbarere Art Hypo- thesen, nicht in so ferne der Begriff willkührlich ist, sondern in so fern man ihn durch das Wort benennt, ungefähr wie man in der Algeber die in die Rechnung gezogenen Größen durch Buchstaben bezeichnet, schlecht-
hin
X. Hauptſtuͤck.
§. 348. Das Mittel, ſolche Wortſtreite und bloß ſcheinbare Beweiſe zu vermeiden, iſt nun eben das, ſo wir vorhin (§. 346.) angegeben haben. Man muß das Willkuͤhrliche in dem Umfang der Begriffe aufhe- ben, und eine Art von Nothwendigkeit dabey einfuͤhren, folglich jeden Begriff ſo beſtimmen, daß er fuͤr ſich ein nettes und vollſtaͤndiges Ganzes vorſtelle. Man ſehe, was wir in dem dritten Hauptſtuͤcke der Alethiologie (§. 135-158.) hieruͤber angemerkt haben. Man kann uͤberhaupt auch anrathen, in abſtracten Wiſſenſchaften die Anzahl der Kunſtwoͤrter lieber zu vermindern als zu vermehren. Sie dienen auch meiſtens nur zur Abkuͤr- zung der Ausdruͤcke, und verwandeln dieſe Kuͤrze meh- rentheils in eine Dunkelheit und wenigſtens ſcheinbaren Wortkram, weil nicht jeder ſich die Muͤhe nimmt, ſich alle die Woͤrter und ihre Definitionen ſo genau bekannt zu machen. So iſt z. E. in der ſcholaſtiſchen Welt- weisheit viel Nuͤtzliches. Es liegt aber unter einem faſt ungeheuern Wortkrame gleichſam begraben.
§. 349. Wir haben ferner bereits ſchon in der Ale- thiologie (§. 156.) angemerkt, daß die Sprache lange nicht genug Woͤrter fuͤr jede Begriffe und ihre Modifi- cationen hat, und daß man daher gleichſam genoͤthigt iſt, die Woͤrter der Sprache ſtuffenweiſe metaphoriſch zu machen, bis ſie bald vieldeutig werden, und einen unbeſtimmten Umfang in ihrer Bedeutung bekommen, der ſich in jeden einzeln Faͤllen aus dem Zuſammen- hange der Rede naͤher beſtimmt, daferne es nicht un- mittelbarer durch eine Definition geſchieht, wodurch man anzeigt, was man in einem vorgegebenen Falle durch dieſes oder jenes Wort verſtehe. Solche Defi- nitionen ſind nun auf eine viel unmittelbarere Art Hypo- theſen, nicht in ſo ferne der Begriff willkuͤhrlich iſt, ſondern in ſo fern man ihn durch das Wort benennt, ungefaͤhr wie man in der Algeber die in die Rechnung gezogenen Groͤßen durch Buchſtaben bezeichnet, ſchlecht-
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X. Hauptſtuͤck.
§. 348. Das Mittel, ſolche Wortſtreite und bloß
ſcheinbare Beweiſe zu vermeiden, iſt nun eben das, ſo
wir vorhin (§. 346.) angegeben haben. Man muß
das Willkuͤhrliche in dem Umfang der Begriffe aufhe-
ben, und eine Art von Nothwendigkeit dabey einfuͤhren,
folglich jeden Begriff ſo beſtimmen, daß er fuͤr ſich ein
nettes und vollſtaͤndiges Ganzes vorſtelle. Man ſehe,
was wir in dem dritten Hauptſtuͤcke der Alethiologie
(§. 135-158.) hieruͤber angemerkt haben. Man kann
uͤberhaupt auch anrathen, in abſtracten Wiſſenſchaften
die Anzahl der Kunſtwoͤrter lieber zu vermindern als zu
vermehren. Sie dienen auch meiſtens nur zur Abkuͤr-
zung der Ausdruͤcke, und verwandeln dieſe Kuͤrze meh-
rentheils in eine Dunkelheit und wenigſtens ſcheinbaren
Wortkram, weil nicht jeder ſich die Muͤhe nimmt, ſich
alle die Woͤrter und ihre Definitionen ſo genau bekannt
zu machen. So iſt z. E. in der ſcholaſtiſchen Welt-
weisheit viel Nuͤtzliches. Es liegt aber unter einem faſt
ungeheuern Wortkrame gleichſam begraben.
§. 349. Wir haben ferner bereits ſchon in der Ale-
thiologie (§. 156.) angemerkt, daß die Sprache lange
nicht genug Woͤrter fuͤr jede Begriffe und ihre Modifi-
cationen hat, und daß man daher gleichſam genoͤthigt
iſt, die Woͤrter der Sprache ſtuffenweiſe metaphoriſch
zu machen, bis ſie bald vieldeutig werden, und einen
unbeſtimmten Umfang in ihrer Bedeutung bekommen,
der ſich in jeden einzeln Faͤllen aus dem Zuſammen-
hange der Rede naͤher beſtimmt, daferne es nicht un-
mittelbarer durch eine Definition geſchieht, wodurch
man anzeigt, was man in einem vorgegebenen Falle
durch dieſes oder jenes Wort verſtehe. Solche Defi-
nitionen ſind nun auf eine viel unmittelbarere Art Hypo-
theſen, nicht in ſo ferne der Begriff willkuͤhrlich iſt,
ſondern in ſo fern man ihn durch das Wort benennt,
ungefaͤhr wie man in der Algeber die in die Rechnung
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/218>, abgerufen am 27.11.2024.
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