Phänomenologie. Erstes Hauptstück. Von den Arten des Scheins.
§. 1.
Die menschliche Erkenntniß hat nicht nur das besonders, daß wir gleichsam genö- thigt sind, unsere Begriffe an Wörter und Zeichen zu binden, durch deren Vor- stellung wir uns die dadurch angedeuteten Begriffe und Bilder der Dinge wieder zu Sinne bringen, so gut wir uns derselben errinnern können: sondern die Art, wie wir nach und nach zu Begriffen und Vorstellungen ge- langen, bringt darinn noch eine andere Verwirrung her- vor, die uns die Versicherung von der Richtigkeit und Uebereinstimmung der Begriffe mit den Dingen selbst, in vielen Fällen und aus vielfältigen Ursachen schwer macht. Wir haben nämlich nicht schlechthin das Wah- re dem Falschen entgegen zu setzen, sondern es findet sich in unserer Erkenntniß zwischen diesen beyden noch ein Mittelding, welches wir den Schein nennen, und dieser macht, daß wir uns die Dinge sehr oft unter ei- ner andern Gestalt vorstellen, und leichte das, was sie
zu
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Phaͤnomenologie. Erſtes Hauptſtuͤck. Von den Arten des Scheins.
§. 1.
Die menſchliche Erkenntniß hat nicht nur das beſonders, daß wir gleichſam genoͤ- thigt ſind, unſere Begriffe an Woͤrter und Zeichen zu binden, durch deren Vor- ſtellung wir uns die dadurch angedeuteten Begriffe und Bilder der Dinge wieder zu Sinne bringen, ſo gut wir uns derſelben errinnern koͤnnen: ſondern die Art, wie wir nach und nach zu Begriffen und Vorſtellungen ge- langen, bringt darinn noch eine andere Verwirrung her- vor, die uns die Verſicherung von der Richtigkeit und Uebereinſtimmung der Begriffe mit den Dingen ſelbſt, in vielen Faͤllen und aus vielfaͤltigen Urſachen ſchwer macht. Wir haben naͤmlich nicht ſchlechthin das Wah- re dem Falſchen entgegen zu ſetzen, ſondern es findet ſich in unſerer Erkenntniß zwiſchen dieſen beyden noch ein Mittelding, welches wir den Schein nennen, und dieſer macht, daß wir uns die Dinge ſehr oft unter ei- ner andern Geſtalt vorſtellen, und leichte das, was ſie
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[[217]/0223]
Phaͤnomenologie.
Erſtes Hauptſtuͤck.
Von den Arten des Scheins.
§. 1.
Die menſchliche Erkenntniß hat nicht nur
das beſonders, daß wir gleichſam genoͤ-
thigt ſind, unſere Begriffe an Woͤrter
und Zeichen zu binden, durch deren Vor-
ſtellung wir uns die dadurch angedeuteten Begriffe und
Bilder der Dinge wieder zu Sinne bringen, ſo gut wir
uns derſelben errinnern koͤnnen: ſondern die Art, wie
wir nach und nach zu Begriffen und Vorſtellungen ge-
langen, bringt darinn noch eine andere Verwirrung her-
vor, die uns die Verſicherung von der Richtigkeit und
Uebereinſtimmung der Begriffe mit den Dingen ſelbſt,
in vielen Faͤllen und aus vielfaͤltigen Urſachen ſchwer
macht. Wir haben naͤmlich nicht ſchlechthin das Wah-
re dem Falſchen entgegen zu ſetzen, ſondern es findet
ſich in unſerer Erkenntniß zwiſchen dieſen beyden noch
ein Mittelding, welches wir den Schein nennen, und
dieſer macht, daß wir uns die Dinge ſehr oft unter ei-
ner andern Geſtalt vorſtellen, und leichte das, was ſie
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. [217]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/223>, abgerufen am 27.11.2024.
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