Schlüsse für richtig zu halten, die es bey genauerer Prü- fung nicht sind.
§. 20. Wir werden demnach die bisher angezeig- ten Quellen und Arten des Scheins so gegen einander halten, daß wir ihre Verhältnisse und Unterschiede über- haupt bestimmen, und jede Art, so viel es die Sprache zuläßt, mit behörigen Namen von den übrigen zu un- terscheiden suchen. Die äußern Sinnen geben uns die zwo Arten an, die wir oben (§. 5--8.) betrachtet haben. Beyde haben das gemein, daß in den Empfindungs- nerven eine Bewegung vorgeht, die uns das Bild ei- ner Sache in den Gedanken vorstellt. Hingegen un- terscheiden sie sich dadurch, daß diese Bewegung der Empfindungsnerven im ersten Fall durch eine wirklich außer uns vorhandene Sache verursacht wird, im an- dern Fall aber keine solche Sache in die Sinnen wirkt, sondern nur die Empfindungsnerven durch Flüsse, wie bey dem Ohrenläuten, durch stärkere Bewegung der Lebensgeister, wie im Deliriren etc. rege werden. Die- se letztere Art des Scheins können wir füglich den or- ganischen oder auch den pathologischen Schein nennen, weil in der That fast immer dabey ein kränklicher oder demselben ähnlicher Zustand des Sinnes und der Empfindungsnerven vorkömmt. Hingegen wird die erste Art, wo nämlich die Sache wirklich da ist, und den Eindruck in die Sinnen macht, am bequemsten der physische Schein genennt werden können, weil der Eindruck in der That physisch ist, und der Begriff, den die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht so fast, wie sie an sich ist, sondern nur, wie wir sie empfinden, vor- stellt. Es giebt Fälle, wo diese beyden Scheine zusam- mentreffen. So z. E. wenn die Säfte im Auge gelb oder trüb sind, so kann man zwar etwan noch die Din- ge sehen, aber mit andern Farben, und undeutlicher. Eben so mischt sich die von der Galle herrührende Bit-
terkeit
P 3
Von den Arten des Scheins.
Schluͤſſe fuͤr richtig zu halten, die es bey genauerer Pruͤ- fung nicht ſind.
§. 20. Wir werden demnach die bisher angezeig- ten Quellen und Arten des Scheins ſo gegen einander halten, daß wir ihre Verhaͤltniſſe und Unterſchiede uͤber- haupt beſtimmen, und jede Art, ſo viel es die Sprache zulaͤßt, mit behoͤrigen Namen von den uͤbrigen zu un- terſcheiden ſuchen. Die aͤußern Sinnen geben uns die zwo Arten an, die wir oben (§. 5—8.) betrachtet haben. Beyde haben das gemein, daß in den Empfindungs- nerven eine Bewegung vorgeht, die uns das Bild ei- ner Sache in den Gedanken vorſtellt. Hingegen un- terſcheiden ſie ſich dadurch, daß dieſe Bewegung der Empfindungsnerven im erſten Fall durch eine wirklich außer uns vorhandene Sache verurſacht wird, im an- dern Fall aber keine ſolche Sache in die Sinnen wirkt, ſondern nur die Empfindungsnerven durch Fluͤſſe, wie bey dem Ohrenlaͤuten, durch ſtaͤrkere Bewegung der Lebensgeiſter, wie im Deliriren ꝛc. rege werden. Die- ſe letztere Art des Scheins koͤnnen wir fuͤglich den or- ganiſchen oder auch den pathologiſchen Schein nennen, weil in der That faſt immer dabey ein kraͤnklicher oder demſelben aͤhnlicher Zuſtand des Sinnes und der Empfindungsnerven vorkoͤmmt. Hingegen wird die erſte Art, wo naͤmlich die Sache wirklich da iſt, und den Eindruck in die Sinnen macht, am bequemſten der phyſiſche Schein genennt werden koͤnnen, weil der Eindruck in der That phyſiſch iſt, und der Begriff, den die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht ſo faſt, wie ſie an ſich iſt, ſondern nur, wie wir ſie empfinden, vor- ſtellt. Es giebt Faͤlle, wo dieſe beyden Scheine zuſam- mentreffen. So z. E. wenn die Saͤfte im Auge gelb oder truͤb ſind, ſo kann man zwar etwan noch die Din- ge ſehen, aber mit andern Farben, und undeutlicher. Eben ſo miſcht ſich die von der Galle herruͤhrende Bit-
terkeit
P 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0235"n="229"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von den Arten des Scheins.</hi></fw><lb/>
Schluͤſſe fuͤr richtig zu halten, die es bey genauerer Pruͤ-<lb/>
fung nicht ſind.</p><lb/><p>§. 20. Wir werden demnach die bisher angezeig-<lb/>
ten Quellen und Arten des Scheins ſo gegen einander<lb/>
halten, daß wir ihre Verhaͤltniſſe und Unterſchiede uͤber-<lb/>
haupt beſtimmen, und jede Art, ſo viel es die Sprache<lb/>
zulaͤßt, mit behoͤrigen Namen von den uͤbrigen zu un-<lb/>
terſcheiden ſuchen. Die aͤußern Sinnen geben uns die<lb/>
zwo Arten an, die wir oben (§. 5—8.) betrachtet haben.<lb/>
Beyde haben das gemein, daß in den Empfindungs-<lb/>
nerven eine Bewegung vorgeht, die uns das Bild ei-<lb/>
ner Sache in den Gedanken vorſtellt. Hingegen un-<lb/>
terſcheiden ſie ſich dadurch, daß dieſe Bewegung der<lb/>
Empfindungsnerven im erſten Fall durch eine wirklich<lb/>
außer uns vorhandene Sache verurſacht wird, im an-<lb/>
dern Fall aber keine ſolche Sache in die Sinnen wirkt,<lb/>ſondern nur die Empfindungsnerven durch Fluͤſſe, wie<lb/>
bey dem Ohrenlaͤuten, durch ſtaͤrkere Bewegung der<lb/>
Lebensgeiſter, wie im Deliriren ꝛc. rege werden. Die-<lb/>ſe letztere Art des Scheins koͤnnen wir fuͤglich den <hirendition="#fr">or-<lb/>
ganiſchen</hi> oder auch den <hirendition="#fr">pathologiſchen Schein</hi><lb/>
nennen, weil in der That faſt immer dabey ein kraͤnklicher<lb/>
oder demſelben aͤhnlicher Zuſtand des Sinnes und der<lb/>
Empfindungsnerven vorkoͤmmt. Hingegen wird die erſte<lb/>
Art, wo naͤmlich die Sache wirklich da iſt, und den<lb/>
Eindruck in die Sinnen macht, am bequemſten der<lb/><hirendition="#fr">phyſiſche Schein</hi> genennt werden koͤnnen, weil der<lb/>
Eindruck in der That phyſiſch iſt, und der Begriff, den<lb/>
die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht ſo faſt, wie<lb/>ſie an ſich iſt, ſondern nur, wie wir ſie empfinden, vor-<lb/>ſtellt. Es giebt Faͤlle, wo dieſe beyden Scheine zuſam-<lb/>
mentreffen. So z. E. wenn die Saͤfte im Auge gelb<lb/>
oder truͤb ſind, ſo kann man zwar etwan noch die Din-<lb/>
ge ſehen, aber mit andern Farben, und undeutlicher.<lb/>
Eben ſo miſcht ſich die von der Galle herruͤhrende Bit-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">terkeit</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[229/0235]
Von den Arten des Scheins.
Schluͤſſe fuͤr richtig zu halten, die es bey genauerer Pruͤ-
fung nicht ſind.
§. 20. Wir werden demnach die bisher angezeig-
ten Quellen und Arten des Scheins ſo gegen einander
halten, daß wir ihre Verhaͤltniſſe und Unterſchiede uͤber-
haupt beſtimmen, und jede Art, ſo viel es die Sprache
zulaͤßt, mit behoͤrigen Namen von den uͤbrigen zu un-
terſcheiden ſuchen. Die aͤußern Sinnen geben uns die
zwo Arten an, die wir oben (§. 5—8.) betrachtet haben.
Beyde haben das gemein, daß in den Empfindungs-
nerven eine Bewegung vorgeht, die uns das Bild ei-
ner Sache in den Gedanken vorſtellt. Hingegen un-
terſcheiden ſie ſich dadurch, daß dieſe Bewegung der
Empfindungsnerven im erſten Fall durch eine wirklich
außer uns vorhandene Sache verurſacht wird, im an-
dern Fall aber keine ſolche Sache in die Sinnen wirkt,
ſondern nur die Empfindungsnerven durch Fluͤſſe, wie
bey dem Ohrenlaͤuten, durch ſtaͤrkere Bewegung der
Lebensgeiſter, wie im Deliriren ꝛc. rege werden. Die-
ſe letztere Art des Scheins koͤnnen wir fuͤglich den or-
ganiſchen oder auch den pathologiſchen Schein
nennen, weil in der That faſt immer dabey ein kraͤnklicher
oder demſelben aͤhnlicher Zuſtand des Sinnes und der
Empfindungsnerven vorkoͤmmt. Hingegen wird die erſte
Art, wo naͤmlich die Sache wirklich da iſt, und den
Eindruck in die Sinnen macht, am bequemſten der
phyſiſche Schein genennt werden koͤnnen, weil der
Eindruck in der That phyſiſch iſt, und der Begriff, den
die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht ſo faſt, wie
ſie an ſich iſt, ſondern nur, wie wir ſie empfinden, vor-
ſtellt. Es giebt Faͤlle, wo dieſe beyden Scheine zuſam-
mentreffen. So z. E. wenn die Saͤfte im Auge gelb
oder truͤb ſind, ſo kann man zwar etwan noch die Din-
ge ſehen, aber mit andern Farben, und undeutlicher.
Eben ſo miſcht ſich die von der Galle herruͤhrende Bit-
terkeit
P 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/235>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.