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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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I. Hauptstück.
auf die Erkenntniß bestimmen sie ebenfalls die Seite
der Sache, die man lieber als andere betrachtet, und
sich daher bekannter macht. Der Mangel der Anläße,
der Zwang der Auferziehung, und jede aus andern
Quellen fließende Bestimmung der Lebensart eines
Menschen, mögen hiebey viel ändern, aber auch nicht
selten zeigt der Erfolg, daß man nicht mit dem Strome
geschifft ist, das will sagen, dem natürlichen Beruf nicht
gefolgt, sondern die Naturgaben ihrer Bestimmung zu-
wider gebraucht hat. Die Fertigkeiten, die wegen der
natürlichen Fähigkeiten auf einen hohen Grad hätten
können gebracht werden, unterbleiben aus Mangel der
Uebung, weil diese auf andere Seiten gelenkt wird.
Wie es aber immer damit vorgeht, so ist der Erfolg
überhaupt dieser, daß jeder Mensch durch Uebung und
Gewohnheit nach und nach in einen gewissen Gesichts-
punkt kömmt, aus welchem sich ihm eine besondere Sei-
te der Dinge mehr als die übrigen auf deckt, und das
Hauptziel seiner Aufmerksamkeit wird. Die Lücken,
die dabey in seiner Erkenntniß bleiben, lassen ebenfalls
Unvollständigkeiten in seinen Urtheilen über die Sachen,
und zwar besonders in denen drey Absichten, die wir
vorhin (§. 13.) bey Betrachtung des Bewußtseyns an-
gezeigt haben.

§. 19. Die höhern Erkenntnißkräfte, der Verstand
und die Vernunft, sollen uns eigentlich keine Quellen
des Scheins geben, weil sie es sind, die durch jedes
Blendwerk des Scheins durchdringen, und weil man
in der That auch nur in so ferne Verstand und Ver-
nunft hat, in so ferne man genau und richtig denkt und
schließt. So ferne man aber hierinn zurückbleibt, und
unrichtige Begriffe und Schlüsse für richtig ansieht, so
ferne wird auch nur die Einbildungskraft und das Ge-
dächtniß als der Grund solcher Fehler angegeben, weil
sie uns nebst den Affecten verleiten, Vorstellungen und

Schlüsse

I. Hauptſtuͤck.
auf die Erkenntniß beſtimmen ſie ebenfalls die Seite
der Sache, die man lieber als andere betrachtet, und
ſich daher bekannter macht. Der Mangel der Anlaͤße,
der Zwang der Auferziehung, und jede aus andern
Quellen fließende Beſtimmung der Lebensart eines
Menſchen, moͤgen hiebey viel aͤndern, aber auch nicht
ſelten zeigt der Erfolg, daß man nicht mit dem Strome
geſchifft iſt, das will ſagen, dem natuͤrlichen Beruf nicht
gefolgt, ſondern die Naturgaben ihrer Beſtimmung zu-
wider gebraucht hat. Die Fertigkeiten, die wegen der
natuͤrlichen Faͤhigkeiten auf einen hohen Grad haͤtten
koͤnnen gebracht werden, unterbleiben aus Mangel der
Uebung, weil dieſe auf andere Seiten gelenkt wird.
Wie es aber immer damit vorgeht, ſo iſt der Erfolg
uͤberhaupt dieſer, daß jeder Menſch durch Uebung und
Gewohnheit nach und nach in einen gewiſſen Geſichts-
punkt koͤmmt, aus welchem ſich ihm eine beſondere Sei-
te der Dinge mehr als die uͤbrigen auf deckt, und das
Hauptziel ſeiner Aufmerkſamkeit wird. Die Luͤcken,
die dabey in ſeiner Erkenntniß bleiben, laſſen ebenfalls
Unvollſtaͤndigkeiten in ſeinen Urtheilen uͤber die Sachen,
und zwar beſonders in denen drey Abſichten, die wir
vorhin (§. 13.) bey Betrachtung des Bewußtſeyns an-
gezeigt haben.

§. 19. Die hoͤhern Erkenntnißkraͤfte, der Verſtand
und die Vernunft, ſollen uns eigentlich keine Quellen
des Scheins geben, weil ſie es ſind, die durch jedes
Blendwerk des Scheins durchdringen, und weil man
in der That auch nur in ſo ferne Verſtand und Ver-
nunft hat, in ſo ferne man genau und richtig denkt und
ſchließt. So ferne man aber hierinn zuruͤckbleibt, und
unrichtige Begriffe und Schluͤſſe fuͤr richtig anſieht, ſo
ferne wird auch nur die Einbildungskraft und das Ge-
daͤchtniß als der Grund ſolcher Fehler angegeben, weil
ſie uns nebſt den Affecten verleiten, Vorſtellungen und

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[228/0234] I. Hauptſtuͤck. auf die Erkenntniß beſtimmen ſie ebenfalls die Seite der Sache, die man lieber als andere betrachtet, und ſich daher bekannter macht. Der Mangel der Anlaͤße, der Zwang der Auferziehung, und jede aus andern Quellen fließende Beſtimmung der Lebensart eines Menſchen, moͤgen hiebey viel aͤndern, aber auch nicht ſelten zeigt der Erfolg, daß man nicht mit dem Strome geſchifft iſt, das will ſagen, dem natuͤrlichen Beruf nicht gefolgt, ſondern die Naturgaben ihrer Beſtimmung zu- wider gebraucht hat. Die Fertigkeiten, die wegen der natuͤrlichen Faͤhigkeiten auf einen hohen Grad haͤtten koͤnnen gebracht werden, unterbleiben aus Mangel der Uebung, weil dieſe auf andere Seiten gelenkt wird. Wie es aber immer damit vorgeht, ſo iſt der Erfolg uͤberhaupt dieſer, daß jeder Menſch durch Uebung und Gewohnheit nach und nach in einen gewiſſen Geſichts- punkt koͤmmt, aus welchem ſich ihm eine beſondere Sei- te der Dinge mehr als die uͤbrigen auf deckt, und das Hauptziel ſeiner Aufmerkſamkeit wird. Die Luͤcken, die dabey in ſeiner Erkenntniß bleiben, laſſen ebenfalls Unvollſtaͤndigkeiten in ſeinen Urtheilen uͤber die Sachen, und zwar beſonders in denen drey Abſichten, die wir vorhin (§. 13.) bey Betrachtung des Bewußtſeyns an- gezeigt haben. §. 19. Die hoͤhern Erkenntnißkraͤfte, der Verſtand und die Vernunft, ſollen uns eigentlich keine Quellen des Scheins geben, weil ſie es ſind, die durch jedes Blendwerk des Scheins durchdringen, und weil man in der That auch nur in ſo ferne Verſtand und Ver- nunft hat, in ſo ferne man genau und richtig denkt und ſchließt. So ferne man aber hierinn zuruͤckbleibt, und unrichtige Begriffe und Schluͤſſe fuͤr richtig anſieht, ſo ferne wird auch nur die Einbildungskraft und das Ge- daͤchtniß als der Grund ſolcher Fehler angegeben, weil ſie uns nebſt den Affecten verleiten, Vorſtellungen und Schluͤſſe

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/234>, abgerufen am 11.05.2024.