Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von den Arten des Scheins.
Dissonanzen und Unvollständigkeiten denselben leichter
von dem wahren zu unterscheiden.

§. 17. Endlich sind die Leidenschaften vielfältige Ur-
sache, daß wir uns die Dinge anders vorstellen, als sie
sind, und |folglich uns durch Blendwerk und Schein
täuschen lassen. Einmal mengt sich das Angenehme
und Unangenehme bey jeden Empfindungen mit ein,
und lenkt die Aufmerksamkeit und das Bewußtseyn
mehr auf die angenehmere oder verdrüßlichere Seite der
Sache, so daß wir von der andern abstrahiren, nicht
darauf achten, und sie als gar nicht vorhanden ansehen.
Und dieses geht nicht nur bey den Empfindungen, son-
dern auch bey jeden Bildern der Einbildungskraft vor.
Lust und Unwillen, Liebe und Haß, Verlangen und
Furcht etc. bestimmen, ohne daß wir darauf merken, die
Seite der Sache, die wir sehen wollen, und stellen sie
uns als die einige und wichtigere vor, und zwar gemei-
niglich mit einer merklichen Vergrößerung jeder Theile
und Umstände. Man muß die Vorzüge der Wahr-
heit genau zu schätzen wissen, wenn der Vorsatz, sie, wie
sie an sich ist, zu finden, jede Affecten und ihre Blend-
werke überwiegen soll. Es giebt fast immer eine
Seite, von welcher wir wünschten, daß sie nicht wäre,
und diese muß man sich so gut als die angenehmere ge-
fallen lassen, um den Werth und Unwerth der Sache
genau zu wissen, weil man sich sonst zuletzt doch nur
würde betrogen finden, wenn ein unerwarteter und noch
viel widrigerer Erfolg die Augen öffnet.

§. 18. Die Begriffe des Leichtern und Mühsa-
mern
haben mit den erst betrachteten Begriffen des
Angenehmern und Unangenehmern eine solche
Verbindung, daß diese bey jenen immer mehr oder min-
der vorkommen. Sie bestimmen bey jedem Monschen
von Kindheit auf den natürlichen Hang zu gewissen
Verrichtungen, Geschäfften und Arbeiten, und in Absicht

auf
P 2

Von den Arten des Scheins.
Diſſonanzen und Unvollſtaͤndigkeiten denſelben leichter
von dem wahren zu unterſcheiden.

§. 17. Endlich ſind die Leidenſchaften vielfaͤltige Ur-
ſache, daß wir uns die Dinge anders vorſtellen, als ſie
ſind, und |folglich uns durch Blendwerk und Schein
taͤuſchen laſſen. Einmal mengt ſich das Angenehme
und Unangenehme bey jeden Empfindungen mit ein,
und lenkt die Aufmerkſamkeit und das Bewußtſeyn
mehr auf die angenehmere oder verdruͤßlichere Seite der
Sache, ſo daß wir von der andern abſtrahiren, nicht
darauf achten, und ſie als gar nicht vorhanden anſehen.
Und dieſes geht nicht nur bey den Empfindungen, ſon-
dern auch bey jeden Bildern der Einbildungskraft vor.
Luſt und Unwillen, Liebe und Haß, Verlangen und
Furcht ꝛc. beſtimmen, ohne daß wir darauf merken, die
Seite der Sache, die wir ſehen wollen, und ſtellen ſie
uns als die einige und wichtigere vor, und zwar gemei-
niglich mit einer merklichen Vergroͤßerung jeder Theile
und Umſtaͤnde. Man muß die Vorzuͤge der Wahr-
heit genau zu ſchaͤtzen wiſſen, wenn der Vorſatz, ſie, wie
ſie an ſich iſt, zu finden, jede Affecten und ihre Blend-
werke uͤberwiegen ſoll. Es giebt faſt immer eine
Seite, von welcher wir wuͤnſchten, daß ſie nicht waͤre,
und dieſe muß man ſich ſo gut als die angenehmere ge-
fallen laſſen, um den Werth und Unwerth der Sache
genau zu wiſſen, weil man ſich ſonſt zuletzt doch nur
wuͤrde betrogen finden, wenn ein unerwarteter und noch
viel widrigerer Erfolg die Augen oͤffnet.

§. 18. Die Begriffe des Leichtern und Muͤhſa-
mern
haben mit den erſt betrachteten Begriffen des
Angenehmern und Unangenehmern eine ſolche
Verbindung, daß dieſe bey jenen immer mehr oder min-
der vorkommen. Sie beſtimmen bey jedem Monſchen
von Kindheit auf den natuͤrlichen Hang zu gewiſſen
Verrichtungen, Geſchaͤfften und Arbeiten, und in Abſicht

auf
P 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0233" n="227"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von den Arten des Scheins.</hi></fw><lb/>
Di&#x017F;&#x017F;onanzen und Unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndigkeiten den&#x017F;elben leichter<lb/>
von dem wahren zu unter&#x017F;cheiden.</p><lb/>
          <p>§. 17. Endlich &#x017F;ind die Leiden&#x017F;chaften vielfa&#x0364;ltige Ur-<lb/>
&#x017F;ache, daß wir uns die Dinge anders vor&#x017F;tellen, als &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind, und |folglich uns durch Blendwerk und Schein<lb/>
ta&#x0364;u&#x017F;chen la&#x017F;&#x017F;en. Einmal mengt &#x017F;ich das Angenehme<lb/>
und Unangenehme bey jeden Empfindungen mit ein,<lb/>
und lenkt die Aufmerk&#x017F;amkeit und das Bewußt&#x017F;eyn<lb/>
mehr auf die angenehmere oder verdru&#x0364;ßlichere Seite der<lb/>
Sache, &#x017F;o daß wir von der andern ab&#x017F;trahiren, nicht<lb/>
darauf achten, und &#x017F;ie als gar nicht vorhanden an&#x017F;ehen.<lb/>
Und die&#x017F;es geht nicht nur bey den Empfindungen, &#x017F;on-<lb/>
dern auch bey jeden Bildern der Einbildungskraft vor.<lb/>
Lu&#x017F;t und Unwillen, Liebe und Haß, Verlangen und<lb/>
Furcht &#xA75B;c. be&#x017F;timmen, ohne daß wir darauf merken, die<lb/>
Seite der Sache, die wir &#x017F;ehen wollen, und &#x017F;tellen &#x017F;ie<lb/>
uns als die einige und wichtigere vor, und zwar gemei-<lb/>
niglich mit einer merklichen Vergro&#x0364;ßerung jeder Theile<lb/>
und Um&#x017F;ta&#x0364;nde. Man muß die Vorzu&#x0364;ge der Wahr-<lb/>
heit genau zu &#x017F;cha&#x0364;tzen wi&#x017F;&#x017F;en, wenn der Vor&#x017F;atz, &#x017F;ie, wie<lb/>
&#x017F;ie an &#x017F;ich i&#x017F;t, zu finden, jede Affecten und ihre Blend-<lb/>
werke u&#x0364;berwiegen &#x017F;oll. Es giebt fa&#x017F;t immer eine<lb/>
Seite, von welcher wir wu&#x0364;n&#x017F;chten, daß &#x017F;ie nicht wa&#x0364;re,<lb/>
und die&#x017F;e muß man &#x017F;ich &#x017F;o gut als die angenehmere ge-<lb/>
fallen la&#x017F;&#x017F;en, um den Werth und Unwerth der Sache<lb/>
genau zu wi&#x017F;&#x017F;en, weil man &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t zuletzt doch nur<lb/>
wu&#x0364;rde betrogen finden, wenn ein unerwarteter und noch<lb/>
viel widrigerer Erfolg die Augen o&#x0364;ffnet.</p><lb/>
          <p>§. 18. Die Begriffe des <hi rendition="#fr">Leichtern</hi> und <hi rendition="#fr">Mu&#x0364;h&#x017F;a-<lb/>
mern</hi> haben mit den er&#x017F;t betrachteten Begriffen des<lb/><hi rendition="#fr">Angenehmern</hi> und <hi rendition="#fr">Unangenehmern</hi> eine &#x017F;olche<lb/>
Verbindung, daß die&#x017F;e bey jenen immer mehr oder min-<lb/>
der vorkommen. Sie be&#x017F;timmen bey jedem Mon&#x017F;chen<lb/>
von Kindheit auf den natu&#x0364;rlichen Hang zu gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Verrichtungen, Ge&#x017F;cha&#x0364;fften und Arbeiten, und in Ab&#x017F;icht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 2</fw><fw place="bottom" type="catch">auf</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[227/0233] Von den Arten des Scheins. Diſſonanzen und Unvollſtaͤndigkeiten denſelben leichter von dem wahren zu unterſcheiden. §. 17. Endlich ſind die Leidenſchaften vielfaͤltige Ur- ſache, daß wir uns die Dinge anders vorſtellen, als ſie ſind, und |folglich uns durch Blendwerk und Schein taͤuſchen laſſen. Einmal mengt ſich das Angenehme und Unangenehme bey jeden Empfindungen mit ein, und lenkt die Aufmerkſamkeit und das Bewußtſeyn mehr auf die angenehmere oder verdruͤßlichere Seite der Sache, ſo daß wir von der andern abſtrahiren, nicht darauf achten, und ſie als gar nicht vorhanden anſehen. Und dieſes geht nicht nur bey den Empfindungen, ſon- dern auch bey jeden Bildern der Einbildungskraft vor. Luſt und Unwillen, Liebe und Haß, Verlangen und Furcht ꝛc. beſtimmen, ohne daß wir darauf merken, die Seite der Sache, die wir ſehen wollen, und ſtellen ſie uns als die einige und wichtigere vor, und zwar gemei- niglich mit einer merklichen Vergroͤßerung jeder Theile und Umſtaͤnde. Man muß die Vorzuͤge der Wahr- heit genau zu ſchaͤtzen wiſſen, wenn der Vorſatz, ſie, wie ſie an ſich iſt, zu finden, jede Affecten und ihre Blend- werke uͤberwiegen ſoll. Es giebt faſt immer eine Seite, von welcher wir wuͤnſchten, daß ſie nicht waͤre, und dieſe muß man ſich ſo gut als die angenehmere ge- fallen laſſen, um den Werth und Unwerth der Sache genau zu wiſſen, weil man ſich ſonſt zuletzt doch nur wuͤrde betrogen finden, wenn ein unerwarteter und noch viel widrigerer Erfolg die Augen oͤffnet. §. 18. Die Begriffe des Leichtern und Muͤhſa- mern haben mit den erſt betrachteten Begriffen des Angenehmern und Unangenehmern eine ſolche Verbindung, daß dieſe bey jenen immer mehr oder min- der vorkommen. Sie beſtimmen bey jedem Monſchen von Kindheit auf den natuͤrlichen Hang zu gewiſſen Verrichtungen, Geſchaͤfften und Arbeiten, und in Abſicht auf P 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/233
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/233>, abgerufen am 26.11.2024.