§. 31. Ungeacht wir bisher die verschiedenen Arten des Scheins jede besonders und einzeln betrachtet ha- ben, so finden sie sich doch in vorkommenden Fällen fast immer beysammen, daferne etwas reales dabey seyn soll. Der subjective Schein allein würde ein Traum, ein Hirngespinst, eine leere Einbildung seyn. Der ob- jective allein ist eine bloße Möglichkeit, und ohne ein denkendes Wesen würde ihm immer das fehlen, was ihn zum Schein macht. Beyde müssen nebst dem re- lativen beysammen seyn, wenn etwas reales zum Grun- de liegen solle. Es kommen aber auch die besondern Arten des subjectiven Scheins mehrentheils beysam- men vor. Denn bey den Empfindungen mengt sich die Einbildungskraft mit ein, und die Affecten bleiben selten ganz weg. Es sind wenige Theile der menschli- chen Erkenntniß, wobey man ganz gleichgültig bliebe, oder wo die Vorstellung des Wahren nicht durch Affe- cten trübe gemacht, oder wo nicht Mühe und Vorsatz erfordert würde, das Wahre zu suchen und anzuneh- men, wie man es findet. Sodann sind die Empfin- dungen die Grundlage zu jeden andern und auch zu den abstractesten Begriffen, und es mengt sich daher in diese fast immer etwas von dem Schein, den jene veranlassen, und die Mühe, sie ganz zu läutern und sich über die Sinnen hinauszuschwingen, ohne noch etwas mit ankle- ben zu lassen, ist östers theils schwer, theils fruchtlos. So stuffenweise wir demnach zu abstracten Begriffen gelangen, eben so stuffenweise muß auch der Schein vom Wahren getrennt werden, um letzteres rein zu ha- ben, und sicherer darauf zu bauen. Wir werden daher dieser Ordnung folgen, und jede Quelle des Scheins besonders vornehmen, um nachgehends deutlicher sehen zu können, wie sie sich bey zusammengesetztern Vorstel- lungen vermischen, und denselben determinirte Gestalten geben.
§. 32.
Von den Arten des Scheins.
§. 31. Ungeacht wir bisher die verſchiedenen Arten des Scheins jede beſonders und einzeln betrachtet ha- ben, ſo finden ſie ſich doch in vorkommenden Faͤllen faſt immer beyſammen, daferne etwas reales dabey ſeyn ſoll. Der ſubjective Schein allein wuͤrde ein Traum, ein Hirngeſpinſt, eine leere Einbildung ſeyn. Der ob- jective allein iſt eine bloße Moͤglichkeit, und ohne ein denkendes Weſen wuͤrde ihm immer das fehlen, was ihn zum Schein macht. Beyde muͤſſen nebſt dem re- lativen beyſammen ſeyn, wenn etwas reales zum Grun- de liegen ſolle. Es kommen aber auch die beſondern Arten des ſubjectiven Scheins mehrentheils beyſam- men vor. Denn bey den Empfindungen mengt ſich die Einbildungskraft mit ein, und die Affecten bleiben ſelten ganz weg. Es ſind wenige Theile der menſchli- chen Erkenntniß, wobey man ganz gleichguͤltig bliebe, oder wo die Vorſtellung des Wahren nicht durch Affe- cten truͤbe gemacht, oder wo nicht Muͤhe und Vorſatz erfordert wuͤrde, das Wahre zu ſuchen und anzuneh- men, wie man es findet. Sodann ſind die Empfin- dungen die Grundlage zu jeden andern und auch zu den abſtracteſten Begriffen, und es mengt ſich daher in dieſe faſt immer etwas von dem Schein, den jene veranlaſſen, und die Muͤhe, ſie ganz zu laͤutern und ſich uͤber die Sinnen hinauszuſchwingen, ohne noch etwas mit ankle- ben zu laſſen, iſt oͤſters theils ſchwer, theils fruchtlos. So ſtuffenweiſe wir demnach zu abſtracten Begriffen gelangen, eben ſo ſtuffenweiſe muß auch der Schein vom Wahren getrennt werden, um letzteres rein zu ha- ben, und ſicherer darauf zu bauen. Wir werden daher dieſer Ordnung folgen, und jede Quelle des Scheins beſonders vornehmen, um nachgehends deutlicher ſehen zu koͤnnen, wie ſie ſich bey zuſammengeſetztern Vorſtel- lungen vermiſchen, und denſelben determinirte Geſtalten geben.
§. 32.
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Von den Arten des Scheins.
§. 31. Ungeacht wir bisher die verſchiedenen Arten
des Scheins jede beſonders und einzeln betrachtet ha-
ben, ſo finden ſie ſich doch in vorkommenden Faͤllen faſt
immer beyſammen, daferne etwas reales dabey ſeyn
ſoll. Der ſubjective Schein allein wuͤrde ein Traum,
ein Hirngeſpinſt, eine leere Einbildung ſeyn. Der ob-
jective allein iſt eine bloße Moͤglichkeit, und ohne ein
denkendes Weſen wuͤrde ihm immer das fehlen, was
ihn zum Schein macht. Beyde muͤſſen nebſt dem re-
lativen beyſammen ſeyn, wenn etwas reales zum Grun-
de liegen ſolle. Es kommen aber auch die beſondern
Arten des ſubjectiven Scheins mehrentheils beyſam-
men vor. Denn bey den Empfindungen mengt ſich
die Einbildungskraft mit ein, und die Affecten bleiben
ſelten ganz weg. Es ſind wenige Theile der menſchli-
chen Erkenntniß, wobey man ganz gleichguͤltig bliebe,
oder wo die Vorſtellung des Wahren nicht durch Affe-
cten truͤbe gemacht, oder wo nicht Muͤhe und Vorſatz
erfordert wuͤrde, das Wahre zu ſuchen und anzuneh-
men, wie man es findet. Sodann ſind die Empfin-
dungen die Grundlage zu jeden andern und auch zu den
abſtracteſten Begriffen, und es mengt ſich daher in dieſe
faſt immer etwas von dem Schein, den jene veranlaſſen,
und die Muͤhe, ſie ganz zu laͤutern und ſich uͤber die
Sinnen hinauszuſchwingen, ohne noch etwas mit ankle-
ben zu laſſen, iſt oͤſters theils ſchwer, theils fruchtlos.
So ſtuffenweiſe wir demnach zu abſtracten Begriffen
gelangen, eben ſo ſtuffenweiſe muß auch der Schein
vom Wahren getrennt werden, um letzteres rein zu ha-
ben, und ſicherer darauf zu bauen. Wir werden daher
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beſonders vornehmen, um nachgehends deutlicher ſehen
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/241>, abgerufen am 25.11.2024.
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