Da unsere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an- fängt, so werden wir der Ordnung der Natur fol- gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die sie uns an- bieten, zuerst und besonders zu betrachten vornehmen, zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Ansehung des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen sind. Wir haben in vorhergehendem Hauptstücke den Schein, so von den Sinnen herrührt, bereits in den physischen und den organischen oder pathologi- schen eingetheilt, und können hier kürzlich anmerken, daß letzterer durchaus subjectiv ist, bey dem erstern aber sowohl das subjective, als das objective und relative des Scheins vorkömmt.
§. 35. Die erste Frage, die sich hiebey anbeut, ist diese: Wie man in jeden besondern Fällen er- kennen könne, ob das, so wir zu empfinden glauben, ein bloß organischer oder aber ein wirklich physischer Schein sey, das will sagen, ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache gewirkt werde oder nicht? Jn Ansehung dieser Frage merken wir voraus an, daß die Jdealisten sie ungefähr so abfassen müssen: Ob die Seele sich ohne äußere Ver- anlassung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob ihre Einbildung unvollständig und unzusammenhängend wäre, wenn sie sich nicht auch die äußere Veranlassung einbildete? Denn in der Sprache der Jdealisten ist al- les hypothetisch, was die Körperwelt angeht, und unter der Bedingung, die Körperwelt sey nur eingebildet,
müssen
Zweytes Hauptſtuͤck. Von dem ſinnlichen Schein.
§. 34.
Da unſere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an- faͤngt, ſo werden wir der Ordnung der Natur fol- gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die ſie uns an- bieten, zuerſt und beſonders zu betrachten vornehmen, zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Anſehung des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen ſind. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke den Schein, ſo von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den phyſiſchen und den organiſchen oder pathologi- ſchen eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken, daß letzterer durchaus ſubjectiv iſt, bey dem erſtern aber ſowohl das ſubjective, als das objective und relative des Scheins vorkoͤmmt.
§. 35. Die erſte Frage, die ſich hiebey anbeut, iſt dieſe: Wie man in jeden beſondern Faͤllen er- kennen koͤnne, ob das, ſo wir zu empfinden glauben, ein bloß organiſcher oder aber ein wirklich phyſiſcher Schein ſey, das will ſagen, ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache gewirkt werde oder nicht? Jn Anſehung dieſer Frage merken wir voraus an, daß die Jdealiſten ſie ungefaͤhr ſo abfaſſen muͤſſen: Ob die Seele ſich ohne aͤußere Ver- anlaſſung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob ihre Einbildung unvollſtaͤndig und unzuſammenhaͤngend waͤre, wenn ſie ſich nicht auch die aͤußere Veranlaſſung einbildete? Denn in der Sprache der Jdealiſten iſt al- les hypothetiſch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter der Bedingung, die Koͤrperwelt ſey nur eingebildet,
muͤſſen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0243"n="237"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Zweytes Hauptſtuͤck.<lb/><hirendition="#g">Von dem ſinnlichen Schein.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#c">§. 34.</hi></p><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>a unſere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an-<lb/>
faͤngt, ſo werden wir der Ordnung der Natur fol-<lb/>
gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die ſie uns an-<lb/>
bieten, zuerſt und beſonders zu betrachten vornehmen,<lb/>
zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Anſehung<lb/>
des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen<lb/>ſind. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke den<lb/>
Schein, ſo von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den<lb/><hirendition="#fr">phyſiſchen</hi> und den <hirendition="#fr">organiſchen</hi> oder <hirendition="#fr">pathologi-<lb/>ſchen</hi> eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken,<lb/>
daß letzterer durchaus ſubjectiv iſt, bey dem erſtern aber<lb/>ſowohl das ſubjective, als das objective und relative<lb/>
des Scheins vorkoͤmmt.</p><lb/><p>§. 35. Die erſte Frage, die ſich hiebey anbeut, iſt<lb/>
dieſe: <hirendition="#fr">Wie man in jeden beſondern Faͤllen er-<lb/>
kennen koͤnne, ob das, ſo wir zu empfinden<lb/>
glauben, ein bloß organiſcher oder aber ein<lb/>
wirklich phyſiſcher Schein ſey,</hi> das will ſagen,<lb/>
ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache<lb/>
gewirkt werde oder nicht? Jn Anſehung dieſer Frage<lb/>
merken wir voraus an, daß die Jdealiſten ſie ungefaͤhr<lb/>ſo abfaſſen muͤſſen: Ob die Seele ſich ohne aͤußere Ver-<lb/>
anlaſſung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob<lb/>
ihre Einbildung unvollſtaͤndig und unzuſammenhaͤngend<lb/>
waͤre, wenn ſie ſich nicht auch die aͤußere Veranlaſſung<lb/>
einbildete? Denn in der Sprache der Jdealiſten iſt al-<lb/>
les hypothetiſch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter<lb/>
der Bedingung, die Koͤrperwelt ſey nur eingebildet,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">muͤſſen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[237/0243]
Zweytes Hauptſtuͤck.
Von dem ſinnlichen Schein.
§. 34.
Da unſere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an-
faͤngt, ſo werden wir der Ordnung der Natur fol-
gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die ſie uns an-
bieten, zuerſt und beſonders zu betrachten vornehmen,
zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Anſehung
des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen
ſind. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke den
Schein, ſo von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den
phyſiſchen und den organiſchen oder pathologi-
ſchen eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken,
daß letzterer durchaus ſubjectiv iſt, bey dem erſtern aber
ſowohl das ſubjective, als das objective und relative
des Scheins vorkoͤmmt.
§. 35. Die erſte Frage, die ſich hiebey anbeut, iſt
dieſe: Wie man in jeden beſondern Faͤllen er-
kennen koͤnne, ob das, ſo wir zu empfinden
glauben, ein bloß organiſcher oder aber ein
wirklich phyſiſcher Schein ſey, das will ſagen,
ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache
gewirkt werde oder nicht? Jn Anſehung dieſer Frage
merken wir voraus an, daß die Jdealiſten ſie ungefaͤhr
ſo abfaſſen muͤſſen: Ob die Seele ſich ohne aͤußere Ver-
anlaſſung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob
ihre Einbildung unvollſtaͤndig und unzuſammenhaͤngend
waͤre, wenn ſie ſich nicht auch die aͤußere Veranlaſſung
einbildete? Denn in der Sprache der Jdealiſten iſt al-
les hypothetiſch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter
der Bedingung, die Koͤrperwelt ſey nur eingebildet,
muͤſſen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/243>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.