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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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IV. Hauptstück.
fahren läßt, wenn es widrig ist. Man sieht leicht, daß
hiebey das Angenehme und Widrige aus ganz andern
Gründen bestimmt wird, als in dem ersten Fall, wo
man es nach den Graden der Leichtigkeit und der Mühe
schätzt. Der Unterschied, der in beyden Fällen in dem
Charakter eines Menschen daraus entsteht, ist beträcht-
lich. Denn wer die Mühe zum Maaßstabe seiner
Entschließungen und zur Richtschnur seines Thuns
macht, ist indolent, träge und unentschlossen, und gegen
andere Beweggründe gleichgültig: Jndolent, weil der
Gebrauch der Leibes- oder Seelenkräfte ihn bald ermü-
det; träge, weil er sie eben deswegen nicht gern ge-
braucht; unentschlossen, weil er ihren Gebrauch wegen
der Ermüdung lieber aufschiebt. Das Gegentheil fin-
det sich, wo andere Beweggründe und Triebe stärker
sind, und die Anstrengung der Kräfte nicht so leicht eine
Ermüdung nach sich zieht. Bey solchen Charaktern ist
mehr Muth, Unverdrossenheit und Hurtigkeit. Und
wer die Mühe und Schwierigkeit gar nicht oder gleich-
sam nur zuletzt in die Rechnung zieht, ist zu größern
Verrichtungen aufgelegt. Dieser Unterschied äußert
sich in Absicht auf die Vorstellung der Dinge ebenfalls.
Der Schein beut sich gleichsam von selbst an, dahinge-
gen das Wahre erst daraus geschlossen und gesucht wer-
den muß. Wer demnach in Absicht auf den Gebrauch
der Erkenntnißkräfte indolent ist, der begnügt sich mit
dem Schein, und läßt sich leicht blenden, so oft es ihm
Mühe macht, auf die Wahrheit zu kommen.

§. 137. Was wir aber in Ansehung der Phänome-
nologie besonders hierüber anzumerken haben, ist, daß
die einzelnen Theile dieser beyden Charakter fast immer
bey einzelnen Menschen durch einander vermischt sind.
Die Schwierigkeiten können nicht immer überwunden
werden, und zu dem Leichten können ebenfalls andere
Beweggründe mangeln. Auf diese Art giebt es in

Absicht

IV. Hauptſtuͤck.
fahren laͤßt, wenn es widrig iſt. Man ſieht leicht, daß
hiebey das Angenehme und Widrige aus ganz andern
Gruͤnden beſtimmt wird, als in dem erſten Fall, wo
man es nach den Graden der Leichtigkeit und der Muͤhe
ſchaͤtzt. Der Unterſchied, der in beyden Faͤllen in dem
Charakter eines Menſchen daraus entſteht, iſt betraͤcht-
lich. Denn wer die Muͤhe zum Maaßſtabe ſeiner
Entſchließungen und zur Richtſchnur ſeines Thuns
macht, iſt indolent, traͤge und unentſchloſſen, und gegen
andere Beweggruͤnde gleichguͤltig: Jndolent, weil der
Gebrauch der Leibes- oder Seelenkraͤfte ihn bald ermuͤ-
det; traͤge, weil er ſie eben deswegen nicht gern ge-
braucht; unentſchloſſen, weil er ihren Gebrauch wegen
der Ermuͤdung lieber aufſchiebt. Das Gegentheil fin-
det ſich, wo andere Beweggruͤnde und Triebe ſtaͤrker
ſind, und die Anſtrengung der Kraͤfte nicht ſo leicht eine
Ermuͤdung nach ſich zieht. Bey ſolchen Charaktern iſt
mehr Muth, Unverdroſſenheit und Hurtigkeit. Und
wer die Muͤhe und Schwierigkeit gar nicht oder gleich-
ſam nur zuletzt in die Rechnung zieht, iſt zu groͤßern
Verrichtungen aufgelegt. Dieſer Unterſchied aͤußert
ſich in Abſicht auf die Vorſtellung der Dinge ebenfalls.
Der Schein beut ſich gleichſam von ſelbſt an, dahinge-
gen das Wahre erſt daraus geſchloſſen und geſucht wer-
den muß. Wer demnach in Abſicht auf den Gebrauch
der Erkenntnißkraͤfte indolent iſt, der begnuͤgt ſich mit
dem Schein, und laͤßt ſich leicht blenden, ſo oft es ihm
Muͤhe macht, auf die Wahrheit zu kommen.

§. 137. Was wir aber in Anſehung der Phaͤnome-
nologie beſonders hieruͤber anzumerken haben, iſt, daß
die einzelnen Theile dieſer beyden Charakter faſt immer
bey einzelnen Menſchen durch einander vermiſcht ſind.
Die Schwierigkeiten koͤnnen nicht immer uͤberwunden
werden, und zu dem Leichten koͤnnen ebenfalls andere
Beweggruͤnde mangeln. Auf dieſe Art giebt es in

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[308/0314] IV. Hauptſtuͤck. fahren laͤßt, wenn es widrig iſt. Man ſieht leicht, daß hiebey das Angenehme und Widrige aus ganz andern Gruͤnden beſtimmt wird, als in dem erſten Fall, wo man es nach den Graden der Leichtigkeit und der Muͤhe ſchaͤtzt. Der Unterſchied, der in beyden Faͤllen in dem Charakter eines Menſchen daraus entſteht, iſt betraͤcht- lich. Denn wer die Muͤhe zum Maaßſtabe ſeiner Entſchließungen und zur Richtſchnur ſeines Thuns macht, iſt indolent, traͤge und unentſchloſſen, und gegen andere Beweggruͤnde gleichguͤltig: Jndolent, weil der Gebrauch der Leibes- oder Seelenkraͤfte ihn bald ermuͤ- det; traͤge, weil er ſie eben deswegen nicht gern ge- braucht; unentſchloſſen, weil er ihren Gebrauch wegen der Ermuͤdung lieber aufſchiebt. Das Gegentheil fin- det ſich, wo andere Beweggruͤnde und Triebe ſtaͤrker ſind, und die Anſtrengung der Kraͤfte nicht ſo leicht eine Ermuͤdung nach ſich zieht. Bey ſolchen Charaktern iſt mehr Muth, Unverdroſſenheit und Hurtigkeit. Und wer die Muͤhe und Schwierigkeit gar nicht oder gleich- ſam nur zuletzt in die Rechnung zieht, iſt zu groͤßern Verrichtungen aufgelegt. Dieſer Unterſchied aͤußert ſich in Abſicht auf die Vorſtellung der Dinge ebenfalls. Der Schein beut ſich gleichſam von ſelbſt an, dahinge- gen das Wahre erſt daraus geſchloſſen und geſucht wer- den muß. Wer demnach in Abſicht auf den Gebrauch der Erkenntnißkraͤfte indolent iſt, der begnuͤgt ſich mit dem Schein, und laͤßt ſich leicht blenden, ſo oft es ihm Muͤhe macht, auf die Wahrheit zu kommen. §. 137. Was wir aber in Anſehung der Phaͤnome- nologie beſonders hieruͤber anzumerken haben, iſt, daß die einzelnen Theile dieſer beyden Charakter faſt immer bey einzelnen Menſchen durch einander vermiſcht ſind. Die Schwierigkeiten koͤnnen nicht immer uͤberwunden werden, und zu dem Leichten koͤnnen ebenfalls andere Beweggruͤnde mangeln. Auf dieſe Art giebt es in Abſicht

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/314>, abgerufen am 20.05.2024.