Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Hauptstück.
ihrer Elle, weil sie eben nicht geneigt sind, ihn für
besser anzusehen, als sie selbst sind. So verfällt man
auch leicht in die Uebereilung, bey physischem Uebel mo-
ralisches zu suchen, Unglücke als Strafen anzusehen, und
zu Handlungen, die schlechthin physisch sind, Moralitä-
ten, die dabey nicht statt haben, hinzuzusetzen, besonders
wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß
haben, so man darüber fällt. Man wird auch in den
oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Fällen ohne Mühe
einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.

§. 139. Die Affecten sind überhaupt eine subjective
Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub-
jectiven dieses gemein, daß sie die von ihnen herrüh-
rende Veränderung in der Vorstellung der Dinge zu-
gleich auf mehrere ausbreiten. Dieser Isochronisinus
ist in vielen Fällen sehr merklich. Wer alles leicht ta-
delt und für thöricht hält, hat ein von Natur verdrießli-
ches Gemüth, oder eine Gewohnheit, sich jede Sache
von der schlimmern Seite vorzustellen, oder es sieht
sonst übel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu
haben, gehört ebenfalls hieher, weil sie mit einer über-
triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf seine Kräfte
verbunden ist. Jn aufgeräumten oder verdrießlichen
Stunden sieht man die Dinge ganz anders an, als bey
ruhigem Gemüthe. Es sollte aber allerdings, was man
bey ruhigem Gemüthe findet, und urtheilt, der Maaß-
stab seyn, nach welchem das übrige geschätzt werden
muß. Und dieses geht besonders auf den Grad der
Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver-
dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als sie an sich
sind, vorgestellt werden können.

§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorstel-
lungen nehmen gewöhnlich die Seele ganz ein, und
schwächen das Bewußtseyn der übrigen, und wo dieses
nicht ganz geschieht, oder wo man andern Empfindun-

gen

IV. Hauptſtuͤck.
ihrer Elle, weil ſie eben nicht geneigt ſind, ihn fuͤr
beſſer anzuſehen, als ſie ſelbſt ſind. So verfaͤllt man
auch leicht in die Uebereilung, bey phyſiſchem Uebel mo-
raliſches zu ſuchen, Ungluͤcke als Strafen anzuſehen, und
zu Handlungen, die ſchlechthin phyſiſch ſind, Moralitaͤ-
ten, die dabey nicht ſtatt haben, hinzuzuſetzen, beſonders
wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß
haben, ſo man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den
oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe
einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.

§. 139. Die Affecten ſind uͤberhaupt eine ſubjective
Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub-
jectiven dieſes gemein, daß ſie die von ihnen herruͤh-
rende Veraͤnderung in der Vorſtellung der Dinge zu-
gleich auf mehrere ausbreiten. Dieſer Iſochroniſinus
iſt in vielen Faͤllen ſehr merklich. Wer alles leicht ta-
delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli-
ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, ſich jede Sache
von der ſchlimmern Seite vorzuſtellen, oder es ſieht
ſonſt uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu
haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil ſie mit einer uͤber-
triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf ſeine Kraͤfte
verbunden iſt. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen
Stunden ſieht man die Dinge ganz anders an, als bey
ruhigem Gemuͤthe. Es ſollte aber allerdings, was man
bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß-
ſtab ſeyn, nach welchem das uͤbrige geſchaͤtzt werden
muß. Und dieſes geht beſonders auf den Grad der
Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver-
dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als ſie an ſich
ſind, vorgeſtellt werden koͤnnen.

§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorſtel-
lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und
ſchwaͤchen das Bewußtſeyn der uͤbrigen, und wo dieſes
nicht ganz geſchieht, oder wo man andern Empfindun-

gen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0316" n="310"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">ihrer Elle,</hi> weil &#x017F;ie eben nicht geneigt &#x017F;ind, ihn fu&#x0364;r<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er anzu&#x017F;ehen, als &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ind. So verfa&#x0364;llt man<lb/>
auch leicht in die Uebereilung, bey phy&#x017F;i&#x017F;chem Uebel mo-<lb/>
rali&#x017F;ches zu &#x017F;uchen, Unglu&#x0364;cke als Strafen anzu&#x017F;ehen, und<lb/>
zu Handlungen, die &#x017F;chlechthin phy&#x017F;i&#x017F;ch &#x017F;ind, Moralita&#x0364;-<lb/>
ten, die dabey nicht &#x017F;tatt haben, hinzuzu&#x017F;etzen, be&#x017F;onders<lb/>
wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß<lb/>
haben, &#x017F;o man daru&#x0364;ber fa&#x0364;llt. Man wird auch in den<lb/>
oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Fa&#x0364;llen ohne Mu&#x0364;he<lb/>
einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.</p><lb/>
          <p>§. 139. Die Affecten &#x017F;ind u&#x0364;berhaupt eine &#x017F;ubjective<lb/>
Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub-<lb/>
jectiven die&#x017F;es gemein, daß &#x017F;ie die von ihnen herru&#x0364;h-<lb/>
rende Vera&#x0364;nderung in der Vor&#x017F;tellung der Dinge zu-<lb/>
gleich auf mehrere ausbreiten. Die&#x017F;er <hi rendition="#aq">I&#x017F;ochroni&#x017F;inus</hi><lb/>
i&#x017F;t in vielen Fa&#x0364;llen &#x017F;ehr merklich. Wer alles leicht ta-<lb/>
delt und fu&#x0364;r tho&#x0364;richt ha&#x0364;lt, hat ein von Natur verdrießli-<lb/>
ches Gemu&#x0364;th, oder eine Gewohnheit, &#x017F;ich jede Sache<lb/>
von der &#x017F;chlimmern Seite vorzu&#x017F;tellen, oder es &#x017F;ieht<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t u&#x0364;bel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu<lb/>
haben, geho&#x0364;rt ebenfalls hieher, weil &#x017F;ie mit einer u&#x0364;ber-<lb/>
triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf &#x017F;eine Kra&#x0364;fte<lb/>
verbunden i&#x017F;t. Jn aufgera&#x0364;umten oder verdrießlichen<lb/>
Stunden &#x017F;ieht man die Dinge ganz anders an, als bey<lb/>
ruhigem Gemu&#x0364;the. Es &#x017F;ollte aber allerdings, was man<lb/>
bey ruhigem Gemu&#x0364;the findet, und urtheilt, der Maaß-<lb/>
&#x017F;tab &#x017F;eyn, nach welchem das u&#x0364;brige ge&#x017F;cha&#x0364;tzt werden<lb/>
muß. Und die&#x017F;es geht be&#x017F;onders auf den Grad der<lb/>
Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver-<lb/>
dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als &#x017F;ie an &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;ind, vorge&#x017F;tellt werden ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen nehmen gewo&#x0364;hnlich die Seele ganz ein, und<lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;chen das Bewußt&#x017F;eyn der u&#x0364;brigen, und wo die&#x017F;es<lb/>
nicht ganz ge&#x017F;chieht, oder wo man andern Empfindun-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310/0316] IV. Hauptſtuͤck. ihrer Elle, weil ſie eben nicht geneigt ſind, ihn fuͤr beſſer anzuſehen, als ſie ſelbſt ſind. So verfaͤllt man auch leicht in die Uebereilung, bey phyſiſchem Uebel mo- raliſches zu ſuchen, Ungluͤcke als Strafen anzuſehen, und zu Handlungen, die ſchlechthin phyſiſch ſind, Moralitaͤ- ten, die dabey nicht ſtatt haben, hinzuzuſetzen, beſonders wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß haben, ſo man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe einen vielfachen Einfluß der Affecten finden. §. 139. Die Affecten ſind uͤberhaupt eine ſubjective Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub- jectiven dieſes gemein, daß ſie die von ihnen herruͤh- rende Veraͤnderung in der Vorſtellung der Dinge zu- gleich auf mehrere ausbreiten. Dieſer Iſochroniſinus iſt in vielen Faͤllen ſehr merklich. Wer alles leicht ta- delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli- ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, ſich jede Sache von der ſchlimmern Seite vorzuſtellen, oder es ſieht ſonſt uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil ſie mit einer uͤber- triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf ſeine Kraͤfte verbunden iſt. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen Stunden ſieht man die Dinge ganz anders an, als bey ruhigem Gemuͤthe. Es ſollte aber allerdings, was man bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß- ſtab ſeyn, nach welchem das uͤbrige geſchaͤtzt werden muß. Und dieſes geht beſonders auf den Grad der Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver- dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als ſie an ſich ſind, vorgeſtellt werden koͤnnen. §. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorſtel- lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und ſchwaͤchen das Bewußtſeyn der uͤbrigen, und wo dieſes nicht ganz geſchieht, oder wo man andern Empfindun- gen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/316
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/316>, abgerufen am 24.11.2024.