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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem moralischen Schein.
gen und Gedanken Raum giebt, da giebt man bald nur
auf die Aehnlichkeiten Achtung, die sie mit denen Bil-
dern und Vorstellungen haben, die der Gegenstand des
Affects sind. Daher ist auch die Sprache der Leiden-
schaften voller Bilder, Vergleichungen und kühner Me-
taphern, woraus man öfters den herrschenden Affect in
dem Charakter eines Menschen erkennen kann. Ge-
meiniglich betrachtet man auch die sonst mit dem Affect
nicht verbundenen Dinge lieber und fast allein von der
Seite, welche mehr solcher Aehnlichkeiten anbeut, und
nimmt die Metaphern, wodurch man sie benennt, un-
vermerkt und öfters ohne Grund von dem Stoffe des
Affectes her. Daß man bey den Cometen und Nord-
lichtern Ruthen, Schwerter, Spieße, Kriegsheere etc.
geträumt hat, ist allerdings der Furcht zuzuschreiben,
welche der Aberglaube, die Unwissenheit, und etwan
auch das böse Gewissen erregten.

§. 141. Die moralischen Wahrheiten, welche auf
das Thun und Lassen gehen, schränken einander ein, und
man kann nicht eine zum Nachtheil der andern schlecht-
hin und ohne die behörige Einschränkung behaupten
oder einschärfen. Jndessen geschieht dieses bey Affe-
cten, als welche die denselben angemessene Wahrheit
gleichsam als die einzige vorstellen, und die übrigen ver-
gessen machen. Dabey ist man sich der Grenzen des
Erlaubten nicht mehr bewußt, und indem man sich ent-
weder zu viel einschränkt, oder zu weit ausschweift, zieht
man sich Folgen zu, die man leicht hätte vermeiden
können, wenn man die Theorie richtig und vollständig
beybehalten hätte. Wenn hiebey die die Affecten ein-
schränkenden Wahrheiten nur vergessen werden, so ist es
bey geringern Graden der Affecten, und bey ruhigerm
Gemüthe möglich, die Folgen dieses Vergessens zu be-
merken, oder wenn sie von andern vorgestellt werden,
der Errinnerung Gehör zu geben, und den Affect zu

mäßi-
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Von dem moraliſchen Schein.
gen und Gedanken Raum giebt, da giebt man bald nur
auf die Aehnlichkeiten Achtung, die ſie mit denen Bil-
dern und Vorſtellungen haben, die der Gegenſtand des
Affects ſind. Daher iſt auch die Sprache der Leiden-
ſchaften voller Bilder, Vergleichungen und kuͤhner Me-
taphern, woraus man oͤfters den herrſchenden Affect in
dem Charakter eines Menſchen erkennen kann. Ge-
meiniglich betrachtet man auch die ſonſt mit dem Affect
nicht verbundenen Dinge lieber und faſt allein von der
Seite, welche mehr ſolcher Aehnlichkeiten anbeut, und
nimmt die Metaphern, wodurch man ſie benennt, un-
vermerkt und oͤfters ohne Grund von dem Stoffe des
Affectes her. Daß man bey den Cometen und Nord-
lichtern Ruthen, Schwerter, Spieße, Kriegsheere ꝛc.
getraͤumt hat, iſt allerdings der Furcht zuzuſchreiben,
welche der Aberglaube, die Unwiſſenheit, und etwan
auch das boͤſe Gewiſſen erregten.

§. 141. Die moraliſchen Wahrheiten, welche auf
das Thun und Laſſen gehen, ſchraͤnken einander ein, und
man kann nicht eine zum Nachtheil der andern ſchlecht-
hin und ohne die behoͤrige Einſchraͤnkung behaupten
oder einſchaͤrfen. Jndeſſen geſchieht dieſes bey Affe-
cten, als welche die denſelben angemeſſene Wahrheit
gleichſam als die einzige vorſtellen, und die uͤbrigen ver-
geſſen machen. Dabey iſt man ſich der Grenzen des
Erlaubten nicht mehr bewußt, und indem man ſich ent-
weder zu viel einſchraͤnkt, oder zu weit ausſchweift, zieht
man ſich Folgen zu, die man leicht haͤtte vermeiden
koͤnnen, wenn man die Theorie richtig und vollſtaͤndig
beybehalten haͤtte. Wenn hiebey die die Affecten ein-
ſchraͤnkenden Wahrheiten nur vergeſſen werden, ſo iſt es
bey geringern Graden der Affecten, und bey ruhigerm
Gemuͤthe moͤglich, die Folgen dieſes Vergeſſens zu be-
merken, oder wenn ſie von andern vorgeſtellt werden,
der Errinnerung Gehoͤr zu geben, und den Affect zu

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[311/0317] Von dem moraliſchen Schein. gen und Gedanken Raum giebt, da giebt man bald nur auf die Aehnlichkeiten Achtung, die ſie mit denen Bil- dern und Vorſtellungen haben, die der Gegenſtand des Affects ſind. Daher iſt auch die Sprache der Leiden- ſchaften voller Bilder, Vergleichungen und kuͤhner Me- taphern, woraus man oͤfters den herrſchenden Affect in dem Charakter eines Menſchen erkennen kann. Ge- meiniglich betrachtet man auch die ſonſt mit dem Affect nicht verbundenen Dinge lieber und faſt allein von der Seite, welche mehr ſolcher Aehnlichkeiten anbeut, und nimmt die Metaphern, wodurch man ſie benennt, un- vermerkt und oͤfters ohne Grund von dem Stoffe des Affectes her. Daß man bey den Cometen und Nord- lichtern Ruthen, Schwerter, Spieße, Kriegsheere ꝛc. getraͤumt hat, iſt allerdings der Furcht zuzuſchreiben, welche der Aberglaube, die Unwiſſenheit, und etwan auch das boͤſe Gewiſſen erregten. §. 141. Die moraliſchen Wahrheiten, welche auf das Thun und Laſſen gehen, ſchraͤnken einander ein, und man kann nicht eine zum Nachtheil der andern ſchlecht- hin und ohne die behoͤrige Einſchraͤnkung behaupten oder einſchaͤrfen. Jndeſſen geſchieht dieſes bey Affe- cten, als welche die denſelben angemeſſene Wahrheit gleichſam als die einzige vorſtellen, und die uͤbrigen ver- geſſen machen. Dabey iſt man ſich der Grenzen des Erlaubten nicht mehr bewußt, und indem man ſich ent- weder zu viel einſchraͤnkt, oder zu weit ausſchweift, zieht man ſich Folgen zu, die man leicht haͤtte vermeiden koͤnnen, wenn man die Theorie richtig und vollſtaͤndig beybehalten haͤtte. Wenn hiebey die die Affecten ein- ſchraͤnkenden Wahrheiten nur vergeſſen werden, ſo iſt es bey geringern Graden der Affecten, und bey ruhigerm Gemuͤthe moͤglich, die Folgen dieſes Vergeſſens zu be- merken, oder wenn ſie von andern vorgeſtellt werden, der Errinnerung Gehoͤr zu geben, und den Affect zu maͤßi- U 4

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/317>, abgerufen am 24.11.2024.