wiß zu werden. Wir haben bereits oben (§. 107. 108. 113.) über den Selbstbetrug, die Aufrichtigkeit und das Mistrauen Anmerkungen gemacht, die ebenfalls hieher dienen können.
§. 258. Jn die bisher erwähnten Classen läßt sich unsere ganze Erkenntniß in Absicht auf die Gewißheit und ihre Grade eintheilen. Denn sie beruht entweder auf unmittelbaren Empfindungen, oder auf De- monstrationen, oder auf Nachrichten, oder sie fleußt aus zwoen oder allen drey dieser Quellen zusam- men. Und wenn eine Erkenntniß aus mehr als einer dieser Quellen, und zwar aus jeder besonders, kann her- geleitet werden, so dient eine der andern zur Probe. Die Rangordnung ist folgende: 1. Wo Demonstratio- nen statt haben können, da gehen diese vor, weil diesel- ben gleichsam nichts weiter als ein denkendes Wesen, und in so ferne, weder Sinnen noch Beyfall anderer fordern. Jndessen da man sich, zumal bey weitläufti- gern Schlüssen, und wo man auf viele Bedingungen und Umstände zugleich zu sehen hat, leicht übersehen, und daß Bewußtseyn, daß man auf alles Acht habe, verlieren oder müde werden kann; so nimmt man die Erfahrung zu Hülfe, um sich von der Richtigkeit des Herausgebrachten zu versichern, oder man legt den Fall anderen in solchen Dingen Geübten vor, um von ihnen zu vernehmen, ob sie einerley Facit herausbringen. Zu- weilen geht es aber auch an, daß man das Gefundene noch auf eine andere Art herauszubringen sucht, oder nachsieht, ob sich die einzeln und an sich offenbaren Fäl- le daraus herleiten lassen? 2. Die eigenen Empfin- dungen, Erfahrungen und Versuche gehen an sich den Nachrichten vor, hingegen werden sie in Sachen, wo Demonstrationen möglich sind, den De- monstrationen nachgesetzt. Sie haben demnach ei- gentlich nur da den Rang, wo es nicht um allgemeine
Möglich-
V. Hauptſtuͤck.
wiß zu werden. Wir haben bereits oben (§. 107. 108. 113.) uͤber den Selbſtbetrug, die Aufrichtigkeit und das Mistrauen Anmerkungen gemacht, die ebenfalls hieher dienen koͤnnen.
§. 258. Jn die bisher erwaͤhnten Claſſen laͤßt ſich unſere ganze Erkenntniß in Abſicht auf die Gewißheit und ihre Grade eintheilen. Denn ſie beruht entweder auf unmittelbaren Empfindungen, oder auf De- monſtrationen, oder auf Nachrichten, oder ſie fleußt aus zwoen oder allen drey dieſer Quellen zuſam- men. Und wenn eine Erkenntniß aus mehr als einer dieſer Quellen, und zwar aus jeder beſonders, kann her- geleitet werden, ſo dient eine der andern zur Probe. Die Rangordnung iſt folgende: 1. Wo Demonſtratio- nen ſtatt haben koͤnnen, da gehen dieſe vor, weil dieſel- ben gleichſam nichts weiter als ein denkendes Weſen, und in ſo ferne, weder Sinnen noch Beyfall anderer fordern. Jndeſſen da man ſich, zumal bey weitlaͤufti- gern Schluͤſſen, und wo man auf viele Bedingungen und Umſtaͤnde zugleich zu ſehen hat, leicht uͤberſehen, und daß Bewußtſeyn, daß man auf alles Acht habe, verlieren oder muͤde werden kann; ſo nimmt man die Erfahrung zu Huͤlfe, um ſich von der Richtigkeit des Herausgebrachten zu verſichern, oder man legt den Fall anderen in ſolchen Dingen Geuͤbten vor, um von ihnen zu vernehmen, ob ſie einerley Facit herausbringen. Zu- weilen geht es aber auch an, daß man das Gefundene noch auf eine andere Art herauszubringen ſucht, oder nachſieht, ob ſich die einzeln und an ſich offenbaren Faͤl- le daraus herleiten laſſen? 2. Die eigenen Empfin- dungen, Erfahrungen und Verſuche gehen an ſich den Nachrichten vor, hingegen werden ſie in Sachen, wo Demonſtrationen moͤglich ſind, den De- monſtrationen nachgeſetzt. Sie haben demnach ei- gentlich nur da den Rang, wo es nicht um allgemeine
Moͤglich-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0420"n="414"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">V.</hi> Hauptſtuͤck.</hi></fw><lb/>
wiß zu werden. Wir haben bereits oben (§. 107. 108.<lb/>
113.) uͤber den Selbſtbetrug, die Aufrichtigkeit und das<lb/>
Mistrauen Anmerkungen gemacht, die ebenfalls hieher<lb/>
dienen koͤnnen.</p><lb/><p>§. 258. Jn die bisher erwaͤhnten Claſſen laͤßt ſich<lb/>
unſere ganze Erkenntniß in Abſicht auf die Gewißheit<lb/>
und ihre Grade eintheilen. Denn ſie beruht entweder<lb/>
auf <hirendition="#fr">unmittelbaren Empfindungen,</hi> oder auf <hirendition="#fr">De-<lb/>
monſtrationen,</hi> oder auf <hirendition="#fr">Nachrichten,</hi> oder ſie<lb/>
fleußt aus zwoen oder allen drey dieſer Quellen zuſam-<lb/>
men. Und wenn eine Erkenntniß aus mehr als einer<lb/>
dieſer Quellen, und zwar aus jeder beſonders, kann her-<lb/>
geleitet werden, ſo dient eine der andern zur Probe.<lb/>
Die Rangordnung iſt folgende: 1. Wo Demonſtratio-<lb/>
nen ſtatt haben koͤnnen, da gehen dieſe vor, weil dieſel-<lb/>
ben gleichſam nichts weiter als ein denkendes Weſen,<lb/>
und in ſo ferne, weder Sinnen noch Beyfall anderer<lb/>
fordern. Jndeſſen da man ſich, zumal bey weitlaͤufti-<lb/>
gern Schluͤſſen, und wo man auf viele Bedingungen<lb/>
und Umſtaͤnde zugleich zu ſehen hat, leicht uͤberſehen,<lb/>
und daß Bewußtſeyn, daß man auf alles Acht habe,<lb/>
verlieren oder muͤde werden kann; ſo nimmt man die<lb/>
Erfahrung zu Huͤlfe, um ſich von der Richtigkeit des<lb/>
Herausgebrachten zu verſichern, oder man legt den Fall<lb/>
anderen in ſolchen Dingen Geuͤbten vor, um von ihnen<lb/>
zu vernehmen, ob ſie einerley Facit herausbringen. Zu-<lb/>
weilen geht es aber auch an, daß man das Gefundene<lb/>
noch auf eine andere Art herauszubringen ſucht, oder<lb/>
nachſieht, ob ſich die einzeln und an ſich offenbaren Faͤl-<lb/>
le daraus herleiten laſſen? 2. Die <hirendition="#fr">eigenen Empfin-<lb/>
dungen, Erfahrungen und Verſuche</hi> gehen an<lb/>ſich den <hirendition="#fr">Nachrichten</hi> vor, hingegen werden ſie in<lb/>
Sachen, wo Demonſtrationen moͤglich ſind, den <hirendition="#fr">De-<lb/>
monſtrationen</hi> nachgeſetzt. Sie haben demnach ei-<lb/>
gentlich nur da den Rang, wo es nicht um allgemeine<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Moͤglich-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[414/0420]
V. Hauptſtuͤck.
wiß zu werden. Wir haben bereits oben (§. 107. 108.
113.) uͤber den Selbſtbetrug, die Aufrichtigkeit und das
Mistrauen Anmerkungen gemacht, die ebenfalls hieher
dienen koͤnnen.
§. 258. Jn die bisher erwaͤhnten Claſſen laͤßt ſich
unſere ganze Erkenntniß in Abſicht auf die Gewißheit
und ihre Grade eintheilen. Denn ſie beruht entweder
auf unmittelbaren Empfindungen, oder auf De-
monſtrationen, oder auf Nachrichten, oder ſie
fleußt aus zwoen oder allen drey dieſer Quellen zuſam-
men. Und wenn eine Erkenntniß aus mehr als einer
dieſer Quellen, und zwar aus jeder beſonders, kann her-
geleitet werden, ſo dient eine der andern zur Probe.
Die Rangordnung iſt folgende: 1. Wo Demonſtratio-
nen ſtatt haben koͤnnen, da gehen dieſe vor, weil dieſel-
ben gleichſam nichts weiter als ein denkendes Weſen,
und in ſo ferne, weder Sinnen noch Beyfall anderer
fordern. Jndeſſen da man ſich, zumal bey weitlaͤufti-
gern Schluͤſſen, und wo man auf viele Bedingungen
und Umſtaͤnde zugleich zu ſehen hat, leicht uͤberſehen,
und daß Bewußtſeyn, daß man auf alles Acht habe,
verlieren oder muͤde werden kann; ſo nimmt man die
Erfahrung zu Huͤlfe, um ſich von der Richtigkeit des
Herausgebrachten zu verſichern, oder man legt den Fall
anderen in ſolchen Dingen Geuͤbten vor, um von ihnen
zu vernehmen, ob ſie einerley Facit herausbringen. Zu-
weilen geht es aber auch an, daß man das Gefundene
noch auf eine andere Art herauszubringen ſucht, oder
nachſieht, ob ſich die einzeln und an ſich offenbaren Faͤl-
le daraus herleiten laſſen? 2. Die eigenen Empfin-
dungen, Erfahrungen und Verſuche gehen an
ſich den Nachrichten vor, hingegen werden ſie in
Sachen, wo Demonſtrationen moͤglich ſind, den De-
monſtrationen nachgeſetzt. Sie haben demnach ei-
gentlich nur da den Rang, wo es nicht um allgemeine
Moͤglich-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/420>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.