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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Zeichnung des Scheins.
zwungen auf einander folge, und der Affect, in den die
Zuhörer kommen sollen, muß selbst auch bey dem Red-
ner erst aus der Rede entstehen, so oft nämlich nicht
schon der Anlaß der Rede dem Zuhörer so bekannt ist,
daß diesem der Affect nicht unerwartet vorkömmt. So
gemessen aber verfährt der Dichter nicht, weil das Ge-
dicht eine Frucht seines Enthusiasmus oder Begeiste-
rung ist. Er malt die Seite der Sache, die er sich in
dem angenommenen Gesichtspunkt schon ganz vorstellt,
mit allen Eindrücken, die sie bey ihm auf die Erkennt-
niß und Begehrungskräfte macht, und bey den Lesern
machen solle.

§. 275. Jn Ansehung dieses Verfahrens der Red-
ner und Dichter ist nun leicht anzumerken, daß sie ge-
wissermaßen das Gegentheil dessen thun, was der Welt-
weise sich vorsetzt, der wissenschaftliche Erkenntniß sucht.
Beyde erstere erstrecken ihr Gebiet nicht über die gemei-
ne Erkenntniß und auch nicht über ihre Form. Der
Redner trägt nicht förmliche Demonstrationen, sondern
Argumente vor, und diese häuft er auf, ohne darüber
Rechnung zu tragen, ob ihre Summe ein Ganzes aus-
mache. Selbst auch Demonstrationen verwandelt er
in solche Argumente, um ihnen die wissenschaftliche Form
zu benehmen, und daher ist die Gewißheit, die er sucht,
diejenige, so wir in vorhergehendem Hauptstücke tumul-
tuarisch genennt haben (§. 264.). Der Dichter faßt
seine Argumente noch ungleich kürzer. Denn wer sollte
ihm nicht glauben, da ihn die bloße Vorstellung der
Sache schon ganz dahinreißt und in Affect setzt? Der
moralische Schein, von dem wir in dem vierten Haupt-
stücke gezeigt haben, daß er ganz subjectiv ist, und bey
Untersuchung der Wahrheit vermieden werden muß, ist
gleichsam das Hauptwerk des Dichters, und sein En-
thusiasmus ist der daselbst (§. 145. seq.) angepriesenen
Gemüthsruhe ganz entgegengesetzt. Da demnach Red-

ner

Von der Zeichnung des Scheins.
zwungen auf einander folge, und der Affect, in den die
Zuhoͤrer kommen ſollen, muß ſelbſt auch bey dem Red-
ner erſt aus der Rede entſtehen, ſo oft naͤmlich nicht
ſchon der Anlaß der Rede dem Zuhoͤrer ſo bekannt iſt,
daß dieſem der Affect nicht unerwartet vorkoͤmmt. So
gemeſſen aber verfaͤhrt der Dichter nicht, weil das Ge-
dicht eine Frucht ſeines Enthuſiaſmus oder Begeiſte-
rung iſt. Er malt die Seite der Sache, die er ſich in
dem angenommenen Geſichtspunkt ſchon ganz vorſtellt,
mit allen Eindruͤcken, die ſie bey ihm auf die Erkennt-
niß und Begehrungskraͤfte macht, und bey den Leſern
machen ſolle.

§. 275. Jn Anſehung dieſes Verfahrens der Red-
ner und Dichter iſt nun leicht anzumerken, daß ſie ge-
wiſſermaßen das Gegentheil deſſen thun, was der Welt-
weiſe ſich vorſetzt, der wiſſenſchaftliche Erkenntniß ſucht.
Beyde erſtere erſtrecken ihr Gebiet nicht uͤber die gemei-
ne Erkenntniß und auch nicht uͤber ihre Form. Der
Redner traͤgt nicht foͤrmliche Demonſtrationen, ſondern
Argumente vor, und dieſe haͤuft er auf, ohne daruͤber
Rechnung zu tragen, ob ihre Summe ein Ganzes aus-
mache. Selbſt auch Demonſtrationen verwandelt er
in ſolche Argumente, um ihnen die wiſſenſchaftliche Form
zu benehmen, und daher iſt die Gewißheit, die er ſucht,
diejenige, ſo wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke tumul-
tuariſch genennt haben (§. 264.). Der Dichter faßt
ſeine Argumente noch ungleich kuͤrzer. Denn wer ſollte
ihm nicht glauben, da ihn die bloße Vorſtellung der
Sache ſchon ganz dahinreißt und in Affect ſetzt? Der
moraliſche Schein, von dem wir in dem vierten Haupt-
ſtuͤcke gezeigt haben, daß er ganz ſubjectiv iſt, und bey
Unterſuchung der Wahrheit vermieden werden muß, iſt
gleichſam das Hauptwerk des Dichters, und ſein En-
thuſiaſmus iſt der daſelbſt (§. 145. ſeq.) angeprieſenen
Gemuͤthsruhe ganz entgegengeſetzt. Da demnach Red-

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[427/0433] Von der Zeichnung des Scheins. zwungen auf einander folge, und der Affect, in den die Zuhoͤrer kommen ſollen, muß ſelbſt auch bey dem Red- ner erſt aus der Rede entſtehen, ſo oft naͤmlich nicht ſchon der Anlaß der Rede dem Zuhoͤrer ſo bekannt iſt, daß dieſem der Affect nicht unerwartet vorkoͤmmt. So gemeſſen aber verfaͤhrt der Dichter nicht, weil das Ge- dicht eine Frucht ſeines Enthuſiaſmus oder Begeiſte- rung iſt. Er malt die Seite der Sache, die er ſich in dem angenommenen Geſichtspunkt ſchon ganz vorſtellt, mit allen Eindruͤcken, die ſie bey ihm auf die Erkennt- niß und Begehrungskraͤfte macht, und bey den Leſern machen ſolle. §. 275. Jn Anſehung dieſes Verfahrens der Red- ner und Dichter iſt nun leicht anzumerken, daß ſie ge- wiſſermaßen das Gegentheil deſſen thun, was der Welt- weiſe ſich vorſetzt, der wiſſenſchaftliche Erkenntniß ſucht. Beyde erſtere erſtrecken ihr Gebiet nicht uͤber die gemei- ne Erkenntniß und auch nicht uͤber ihre Form. Der Redner traͤgt nicht foͤrmliche Demonſtrationen, ſondern Argumente vor, und dieſe haͤuft er auf, ohne daruͤber Rechnung zu tragen, ob ihre Summe ein Ganzes aus- mache. Selbſt auch Demonſtrationen verwandelt er in ſolche Argumente, um ihnen die wiſſenſchaftliche Form zu benehmen, und daher iſt die Gewißheit, die er ſucht, diejenige, ſo wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke tumul- tuariſch genennt haben (§. 264.). Der Dichter faßt ſeine Argumente noch ungleich kuͤrzer. Denn wer ſollte ihm nicht glauben, da ihn die bloße Vorſtellung der Sache ſchon ganz dahinreißt und in Affect ſetzt? Der moraliſche Schein, von dem wir in dem vierten Haupt- ſtuͤcke gezeigt haben, daß er ganz ſubjectiv iſt, und bey Unterſuchung der Wahrheit vermieden werden muß, iſt gleichſam das Hauptwerk des Dichters, und ſein En- thuſiaſmus iſt der daſelbſt (§. 145. ſeq.) angeprieſenen Gemuͤthsruhe ganz entgegengeſetzt. Da demnach Red- ner

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/433>, abgerufen am 21.11.2024.