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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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VI. Hauptstück.
ner und Dichter, so fern sie solche sind, das Wahre und
das Wahrhaftgute so genau nicht abwägen, so haben
sie allerdings den Stoff zu ihrem Vortrage von dem
Weltweisen zu borgen, um ihn so einzukleiden, daß er
auch denen faßlich werde, die weder Muße noch Fähig-
keit haben, dem Weltweisen in seinen genauern und
tiefsinnigern Untersuchungen zu folgen, und die sich durch
Affecten lenken lassen, wohin ihr Wille, aus Mangel
der behörigen Deutlichkeit der Vorstellungen, nicht rei-
chen mag. Eine rednerische oder poetische Vorstellung
mag so einnehmend scheinen, als es immer seyn mag, so
geht derselben immer der wesentlichste Vorzug ab, wenn
sie auf Jrrthum gegründet ist. Sie bleibt unbrauch-
bar oder man gebraucht sie mit Nachtheil. Die Seite
der Sache, die der Dichter vorstellt, muß wirklich eine
Seite derselben seyn, oder wenigstens seyn können, und
die Bilder, die er gebraucht, um sie lebhafter auszuma-
len, müssen sich wirklich dazu können gebrauchen lassen,
wenn anders der Leser am Verstand und Willen gebes-
sert werden soll.

§. 276. Jns besondere wird die oben (§. 141.) ge-
machte Anmerkung, daß die moralischen Wahrheiten
einander einschränken, und die daraus gezogenen Folgen
von den Rednern und mehr noch von den Dichtern bey-
seite gesetzt, als welche gewöhnlich auf eine von solchen
Wahrheiten zum Nachtheil der übrigen dringen, da-
durch sie sollte eingeschränkt werden. Daher kann es
kommen, daß, wer sich von dem in moralischen Reden
und Gedichten herrschenden Affecten leicht einnehmen
läßt, nach und nach von ganz entgegengesetzten Affecten
hingerissen wird, ohne daß er das Ebenmaaß zwischen
allen bestimmen, und sich nach diesem richten könnte.
Man kann aber dieses den Rednern und Dichtern um
so weniger zur Last legen, da die genauere Bestimmung
von den Schranken der Wichtigkeit jeder moralischen

Wahr-

VI. Hauptſtuͤck.
ner und Dichter, ſo fern ſie ſolche ſind, das Wahre und
das Wahrhaftgute ſo genau nicht abwaͤgen, ſo haben
ſie allerdings den Stoff zu ihrem Vortrage von dem
Weltweiſen zu borgen, um ihn ſo einzukleiden, daß er
auch denen faßlich werde, die weder Muße noch Faͤhig-
keit haben, dem Weltweiſen in ſeinen genauern und
tiefſinnigern Unterſuchungen zu folgen, und die ſich durch
Affecten lenken laſſen, wohin ihr Wille, aus Mangel
der behoͤrigen Deutlichkeit der Vorſtellungen, nicht rei-
chen mag. Eine redneriſche oder poetiſche Vorſtellung
mag ſo einnehmend ſcheinen, als es immer ſeyn mag, ſo
geht derſelben immer der weſentlichſte Vorzug ab, wenn
ſie auf Jrrthum gegruͤndet iſt. Sie bleibt unbrauch-
bar oder man gebraucht ſie mit Nachtheil. Die Seite
der Sache, die der Dichter vorſtellt, muß wirklich eine
Seite derſelben ſeyn, oder wenigſtens ſeyn koͤnnen, und
die Bilder, die er gebraucht, um ſie lebhafter auszuma-
len, muͤſſen ſich wirklich dazu koͤnnen gebrauchen laſſen,
wenn anders der Leſer am Verſtand und Willen gebeſ-
ſert werden ſoll.

§. 276. Jns beſondere wird die oben (§. 141.) ge-
machte Anmerkung, daß die moraliſchen Wahrheiten
einander einſchraͤnken, und die daraus gezogenen Folgen
von den Rednern und mehr noch von den Dichtern bey-
ſeite geſetzt, als welche gewoͤhnlich auf eine von ſolchen
Wahrheiten zum Nachtheil der uͤbrigen dringen, da-
durch ſie ſollte eingeſchraͤnkt werden. Daher kann es
kommen, daß, wer ſich von dem in moraliſchen Reden
und Gedichten herrſchenden Affecten leicht einnehmen
laͤßt, nach und nach von ganz entgegengeſetzten Affecten
hingeriſſen wird, ohne daß er das Ebenmaaß zwiſchen
allen beſtimmen, und ſich nach dieſem richten koͤnnte.
Man kann aber dieſes den Rednern und Dichtern um
ſo weniger zur Laſt legen, da die genauere Beſtimmung
von den Schranken der Wichtigkeit jeder moraliſchen

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[428/0434] VI. Hauptſtuͤck. ner und Dichter, ſo fern ſie ſolche ſind, das Wahre und das Wahrhaftgute ſo genau nicht abwaͤgen, ſo haben ſie allerdings den Stoff zu ihrem Vortrage von dem Weltweiſen zu borgen, um ihn ſo einzukleiden, daß er auch denen faßlich werde, die weder Muße noch Faͤhig- keit haben, dem Weltweiſen in ſeinen genauern und tiefſinnigern Unterſuchungen zu folgen, und die ſich durch Affecten lenken laſſen, wohin ihr Wille, aus Mangel der behoͤrigen Deutlichkeit der Vorſtellungen, nicht rei- chen mag. Eine redneriſche oder poetiſche Vorſtellung mag ſo einnehmend ſcheinen, als es immer ſeyn mag, ſo geht derſelben immer der weſentlichſte Vorzug ab, wenn ſie auf Jrrthum gegruͤndet iſt. Sie bleibt unbrauch- bar oder man gebraucht ſie mit Nachtheil. Die Seite der Sache, die der Dichter vorſtellt, muß wirklich eine Seite derſelben ſeyn, oder wenigſtens ſeyn koͤnnen, und die Bilder, die er gebraucht, um ſie lebhafter auszuma- len, muͤſſen ſich wirklich dazu koͤnnen gebrauchen laſſen, wenn anders der Leſer am Verſtand und Willen gebeſ- ſert werden ſoll. §. 276. Jns beſondere wird die oben (§. 141.) ge- machte Anmerkung, daß die moraliſchen Wahrheiten einander einſchraͤnken, und die daraus gezogenen Folgen von den Rednern und mehr noch von den Dichtern bey- ſeite geſetzt, als welche gewoͤhnlich auf eine von ſolchen Wahrheiten zum Nachtheil der uͤbrigen dringen, da- durch ſie ſollte eingeſchraͤnkt werden. Daher kann es kommen, daß, wer ſich von dem in moraliſchen Reden und Gedichten herrſchenden Affecten leicht einnehmen laͤßt, nach und nach von ganz entgegengeſetzten Affecten hingeriſſen wird, ohne daß er das Ebenmaaß zwiſchen allen beſtimmen, und ſich nach dieſem richten koͤnnte. Man kann aber dieſes den Rednern und Dichtern um ſo weniger zur Laſt legen, da die genauere Beſtimmung von den Schranken der Wichtigkeit jeder moraliſchen Wahr-

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/434>, abgerufen am 11.05.2024.