Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite
IV. Hauptstück.

§. 154. Wir haben zu diesen Hülfswörtern die Wör-
ter: seyn, haben, werden, nicht mitgerechnet, weil
diese im Deutschen in einem ganz andern Verstande
Hülfswörter sind; indem wir sie schlechthin zu Bestim-
mung der Zeit gebrauchen, weil wir im Deutschen nicht
genug Endungen haben, um jede Zeiten anzuzeigen, wie
die Lateiner im Actiuo, und die Griechen durchaus.
Wir sagen daher: ich habe gesehen, ich hatte ge-
sehen, ich werde sehen, ich würde sehen, ich
werde gesehen, ich würde gesehen worden seyn

etc. Und alles dieses in einem sehr uneigentlichen und
schlechthin angewöhnten Verstande. Hingegen gehen
die vorhin erwähnten Hülfswörter durch alle Zeiten und
Arten des Zeitworts durch, und behalten ihre Be-
deutung.

§. 155. Es wäre an sich möglich, die Bedeutung
dieser Hülfswörter durch Ableitungstheilchen anzuzei-
gen, um dadurch die Sprache kürzer und nachdrückli-
cher zu machen. Die Lateiner haben ihre Inchoatiua,
Frequentatiua, Desideratiua, Deminutiua.
Z. E. la-
basco, lectito, lecturio, cantillo
,
etc. So haben wir
auch im Deutschen alten, ältern, älteln, rechten,
rechtigen,
etc. Ob sich aber ihre Anzahl durch neue
und dem Sprachgebrauch gemäße Ableitungstheilchen
vermehren lasse, ist eine andere Frage, die in der oben
(§. 129.) erwähnten Theorie der deutschen Sprache vor-
kommen solle, weil darinn die Bedeutung der Sylben,
wodurch ein Wort von dem andern abgeleitet wird,
vorkommen muß. Und hiezu finden sich allerdings
Spuren in der Sprache, denen man nachgehen kann.

§. 156. Die Verschiedenheit der Conjugationen
oder Abwandlungsarten der Zeitwörter, wie sie z. E.
im Lateinischen und den daherrührenden Sprachen vor-
kömmt, scheint keinen metaphysischen Grund zu haben,
ungeacht sie einen haben könnte. Denn so kömmt es

im
IV. Hauptſtuͤck.

§. 154. Wir haben zu dieſen Huͤlfswoͤrtern die Woͤr-
ter: ſeyn, haben, werden, nicht mitgerechnet, weil
dieſe im Deutſchen in einem ganz andern Verſtande
Huͤlfswoͤrter ſind; indem wir ſie ſchlechthin zu Beſtim-
mung der Zeit gebrauchen, weil wir im Deutſchen nicht
genug Endungen haben, um jede Zeiten anzuzeigen, wie
die Lateiner im Actiuo, und die Griechen durchaus.
Wir ſagen daher: ich habe geſehen, ich hatte ge-
ſehen, ich werde ſehen, ich wuͤrde ſehen, ich
werde geſehen, ich wuͤrde geſehen worden ſeyn

ꝛc. Und alles dieſes in einem ſehr uneigentlichen und
ſchlechthin angewoͤhnten Verſtande. Hingegen gehen
die vorhin erwaͤhnten Huͤlfswoͤrter durch alle Zeiten und
Arten des Zeitworts durch, und behalten ihre Be-
deutung.

§. 155. Es waͤre an ſich moͤglich, die Bedeutung
dieſer Huͤlfswoͤrter durch Ableitungstheilchen anzuzei-
gen, um dadurch die Sprache kuͤrzer und nachdruͤckli-
cher zu machen. Die Lateiner haben ihre Inchoatiua,
Frequentatiua, Deſideratiua, Deminutiua.
Z. E. la-
baſco, lectito, lecturio, cantillo
,
ꝛc. So haben wir
auch im Deutſchen alten, aͤltern, aͤlteln, rechten,
rechtigen,
ꝛc. Ob ſich aber ihre Anzahl durch neue
und dem Sprachgebrauch gemaͤße Ableitungstheilchen
vermehren laſſe, iſt eine andere Frage, die in der oben
(§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Sprache vor-
kommen ſolle, weil darinn die Bedeutung der Sylben,
wodurch ein Wort von dem andern abgeleitet wird,
vorkommen muß. Und hiezu finden ſich allerdings
Spuren in der Sprache, denen man nachgehen kann.

§. 156. Die Verſchiedenheit der Conjugationen
oder Abwandlungsarten der Zeitwoͤrter, wie ſie z. E.
im Lateiniſchen und den daherruͤhrenden Sprachen vor-
koͤmmt, ſcheint keinen metaphyſiſchen Grund zu haben,
ungeacht ſie einen haben koͤnnte. Denn ſo koͤmmt es

im
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0096" n="90"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi> </fw><lb/>
          <p>§. 154. Wir haben zu die&#x017F;en Hu&#x0364;lfswo&#x0364;rtern die Wo&#x0364;r-<lb/>
ter: <hi rendition="#fr">&#x017F;eyn, haben, werden,</hi> nicht mitgerechnet, weil<lb/>
die&#x017F;e im Deut&#x017F;chen in einem ganz andern Ver&#x017F;tande<lb/>
Hu&#x0364;lfswo&#x0364;rter &#x017F;ind; indem wir &#x017F;ie &#x017F;chlechthin zu Be&#x017F;tim-<lb/>
mung der Zeit gebrauchen, weil wir im Deut&#x017F;chen nicht<lb/>
genug Endungen haben, um jede Zeiten anzuzeigen, wie<lb/>
die Lateiner im <hi rendition="#aq">Actiuo</hi>, und die Griechen durchaus.<lb/>
Wir &#x017F;agen daher: <hi rendition="#fr">ich habe ge&#x017F;ehen, ich hatte ge-<lb/>
&#x017F;ehen, ich werde &#x017F;ehen, ich wu&#x0364;rde &#x017F;ehen, ich<lb/>
werde ge&#x017F;ehen, ich wu&#x0364;rde ge&#x017F;ehen worden &#x017F;eyn</hi><lb/>
&#xA75B;c. Und alles die&#x017F;es in einem &#x017F;ehr uneigentlichen und<lb/>
&#x017F;chlechthin angewo&#x0364;hnten Ver&#x017F;tande. Hingegen gehen<lb/>
die vorhin erwa&#x0364;hnten Hu&#x0364;lfswo&#x0364;rter durch alle Zeiten und<lb/>
Arten des Zeitworts durch, und behalten ihre Be-<lb/>
deutung.</p><lb/>
          <p>§. 155. Es wa&#x0364;re an &#x017F;ich mo&#x0364;glich, die Bedeutung<lb/>
die&#x017F;er Hu&#x0364;lfswo&#x0364;rter durch Ableitungstheilchen anzuzei-<lb/>
gen, um dadurch die Sprache ku&#x0364;rzer und nachdru&#x0364;ckli-<lb/>
cher zu machen. Die Lateiner haben ihre <hi rendition="#aq">Inchoatiua,<lb/>
Frequentatiua, De&#x017F;ideratiua, Deminutiua.</hi> Z. E. <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">la-<lb/>
ba&#x017F;co, lectito, lecturio, cantillo</hi>,</hi> &#xA75B;c. So haben wir<lb/>
auch im Deut&#x017F;chen <hi rendition="#fr">alten, a&#x0364;ltern, a&#x0364;lteln, rechten,<lb/>
rechtigen,</hi> &#xA75B;c. Ob &#x017F;ich aber ihre Anzahl durch neue<lb/>
und dem Sprachgebrauch gema&#x0364;ße Ableitungstheilchen<lb/>
vermehren la&#x017F;&#x017F;e, i&#x017F;t eine andere Frage, die in der oben<lb/>
(§. 129.) erwa&#x0364;hnten Theorie der deut&#x017F;chen Sprache vor-<lb/>
kommen &#x017F;olle, weil darinn die Bedeutung der Sylben,<lb/>
wodurch ein Wort von dem andern abgeleitet wird,<lb/>
vorkommen muß. Und hiezu finden &#x017F;ich allerdings<lb/>
Spuren in der Sprache, denen man nachgehen kann.</p><lb/>
          <p>§. 156. Die Ver&#x017F;chiedenheit der Conjugationen<lb/>
oder Abwandlungsarten der Zeitwo&#x0364;rter, wie &#x017F;ie z. E.<lb/>
im Lateini&#x017F;chen und den daherru&#x0364;hrenden Sprachen vor-<lb/>
ko&#x0364;mmt, &#x017F;cheint keinen metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Grund zu haben,<lb/>
ungeacht &#x017F;ie einen haben ko&#x0364;nnte. Denn &#x017F;o ko&#x0364;mmt es<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">im</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0096] IV. Hauptſtuͤck. §. 154. Wir haben zu dieſen Huͤlfswoͤrtern die Woͤr- ter: ſeyn, haben, werden, nicht mitgerechnet, weil dieſe im Deutſchen in einem ganz andern Verſtande Huͤlfswoͤrter ſind; indem wir ſie ſchlechthin zu Beſtim- mung der Zeit gebrauchen, weil wir im Deutſchen nicht genug Endungen haben, um jede Zeiten anzuzeigen, wie die Lateiner im Actiuo, und die Griechen durchaus. Wir ſagen daher: ich habe geſehen, ich hatte ge- ſehen, ich werde ſehen, ich wuͤrde ſehen, ich werde geſehen, ich wuͤrde geſehen worden ſeyn ꝛc. Und alles dieſes in einem ſehr uneigentlichen und ſchlechthin angewoͤhnten Verſtande. Hingegen gehen die vorhin erwaͤhnten Huͤlfswoͤrter durch alle Zeiten und Arten des Zeitworts durch, und behalten ihre Be- deutung. §. 155. Es waͤre an ſich moͤglich, die Bedeutung dieſer Huͤlfswoͤrter durch Ableitungstheilchen anzuzei- gen, um dadurch die Sprache kuͤrzer und nachdruͤckli- cher zu machen. Die Lateiner haben ihre Inchoatiua, Frequentatiua, Deſideratiua, Deminutiua. Z. E. la- baſco, lectito, lecturio, cantillo, ꝛc. So haben wir auch im Deutſchen alten, aͤltern, aͤlteln, rechten, rechtigen, ꝛc. Ob ſich aber ihre Anzahl durch neue und dem Sprachgebrauch gemaͤße Ableitungstheilchen vermehren laſſe, iſt eine andere Frage, die in der oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Sprache vor- kommen ſolle, weil darinn die Bedeutung der Sylben, wodurch ein Wort von dem andern abgeleitet wird, vorkommen muß. Und hiezu finden ſich allerdings Spuren in der Sprache, denen man nachgehen kann. §. 156. Die Verſchiedenheit der Conjugationen oder Abwandlungsarten der Zeitwoͤrter, wie ſie z. E. im Lateiniſchen und den daherruͤhrenden Sprachen vor- koͤmmt, ſcheint keinen metaphyſiſchen Grund zu haben, ungeacht ſie einen haben koͤnnte. Denn ſo koͤmmt es im

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/96
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/96>, abgerufen am 10.05.2024.