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Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.

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Erklärung des Briefs Pauli Cap. 2, 1-3.
[Spaltenumbruch] darin sie mit ihm, Paulo, und unter sich selbst
stunden, zu zweifeln. Und daher führet er dieses
zu einer Ursache an, welches sie bewegen könte und
solte, seiner Ermahnung nachzukommen. Denn
nach diesem Grunde kam die Ermahnung nicht
so wol von Paulo, als durch ihn von dem Heiligen
Geiste her, welcher sie daher so viel weniger ent-
gegen seyn würden, so viel mehr sie bereits durch
die Salbung des Heiligen Geistes zur Gemein-
schaft ihres Geistes, oder ihres geistlichen Sinnes
unter und gegen einander gelanget waren.
5. Und dabey gedencket er zuletzt auch der
recht erbarmenden und mitleidigen Liebe in An-
sehung seiner bisherigen vielen und grossen Lei-
den, und will damit so viel sagen, daß sie seinen
Ermahnungen so viel mehr nachkommen solten
und würden, so viel näher ihnen sein bisheriger
Zustand sey zu Hertzen gegangen: wie denn leicht-
lich zu erachten, daß, da er vor dem zu Philippen
öffentlich entblösset u. aufs schmähelichste gestäu-
pet, und noch dazu in das tiefeste Gefängniß ge-
leget worden Ap. Gesch. 16, 22. u. f. die Gläu-
bigen darüber in ein so viel empfindlicheres Mit-
leiden sind gesetzet worden, ie lieber u. werther sie
Paulum hatten. Man siehet in der gantzen Re-
de eine besondere Fülle des zartesten Afsects und
und grössesten Ernsts an Paulo.
6. Die Einigkeit des Sinnes forderte
der Apostel mit unterschiedlichen Worten, weil
daran sonderlich viel gelegen war. Sie sollen
phronei~n to auto und to en, und seyn sumpsukhoi:
gleichwie er schon vorher c. 1, 27. eben dergleichen
gefodert hatte. Er siehet damit theils auf die
Lehre, theils auf den zu führenden rechtschaffenen
Sinn, daß er bey allen solle GOTT ergeben
seyn und bleiben. Und was die Lehre betrifft,
so war zwar unter den Kirch-Gliedern ein gar un-
terschiedenes Maß der Erkäntniß, daß einige
darinnen weiter sahen, als andere, so wol an sich
selbst, als auch in Auslegung der Heil. Schrift:
aber sie solten und konten deßwegen doch in allen
Haupt-Stücken eines Glaubens und eines Sin-
nes bleiben. Und daß der Apostel dieses mit
mehrern Worten erinnerte, kam wol sonderlich
daher, weil er wol wußte, welchen Versuchun-
gen sie unterworfen wären, da solche irrige Ge-
setz-Lehrer unter ihnen aufgestanden waren, wel-
che unter andern auf die Beschneidung drungen,
und damit leichtlich allerley Zerrüttung anrich-
ten konten. Die er daher c. 3, 2. die Zerschnei-
dung nennet.
7. Nebst der Einigkeit des Gemüths fodert
er gleiche Liebe, als wodurch sie am meisten
unterhalten wird. Denn nach der Liebe träget
man an dem Nächsten und suchet an ihm zu bes-
sern, was ohne Liebe leichtlich allerley Mißver-
stand und Uneinigkeit anrichten könte. Und da
es der Liebe Art ist, daß sie eine Gegen-Liebe
wircket und fodert, und wo sie solche nicht fin-
det, daher eine Last bekömmt; so will er, daß
keiner dem andern mit dem Mangel der Bruder-
Liebe, davon die Rede ist, und die billig bey al-
len gleich seyn soll, lästig werde.
8. Gleichwie zur Einigkeit des Geistes die
Liebe gehöret; also gehöret zur Liebe die Demuth,
als ohne welche sie nicht bestehen kan. Wie denn
[Spaltenumbruch] alle göttliche Wahrheiten und Pflichten von der
Art sind, daß sie wie eine Kette an einander han-
gen, also, daß immer eine die andere theils aus
sich gebieret, theils unterstützet, befördert und
zieret.
9. Er zeiget aber zugleich an, wie und wo-
mit sich die wahre Hertzens-Demuth gegen an-
dere erweisen solle, nemlich damit, daß einer den
andern höher halte, als sich selbst. Da denn
durch das höher halten auch das besser, weiser
und frömmer halten zu verstehen ist. Da nun
aber die Glieder an dem Leibe CHristi zum Theil
von einem gar mercklichen Unterscheide sind, also,
daß das eine dem andern es hieri[nn] und darin-
nen zuvor thut, und die, welche die andern über-
treffen, doch gleichwol, um die Gnade GOttes
an sich zu erkennen, solches wol in Demuth
mercken können: so fragetsich, wie denn solches
mit dem, daß einer den andern höher halten solle,
als sich selbst, bestehe[n] könne? Gar wohl: der
Grund davon ist dieser: Ein ieder von GOTT
erweckter Mensch weiß das, was mit ihm inner-
lich vorgehet, was er für Mängel und Gebre-
chen, was er für Kämpfe und Versuchungen
habe, am lesten, besser, als ein anderer ausser
ihm. Hingegen fällt einem von einem andern,
der das Böse nicht mehr herrschen, vielweniger
zum äusserlichen Ausbruch kommen lässet, das
Gute, welches er aus dem guten Grunde seines
He[r]tzens beweiset, mehr ins Auge und in die Be-
tr[a]chtung, als das in ihm innerlich verborgener
Weise noch übrige Böse. Und folglich so hat
ein ieder, der in genauer Selbst-Prüfung vor
GOTT wandelt, von seiner eignen Unvollkom-
heie und Schwachheit viel mehrere Erfahrung,
als von der, die eines andern ist. Und daher kan
er auch den andern für besser und getreuer, und
in solcher Betrachtung höher halten, als sich selbst.
Und gesetzt auch, daß er in solchem Urtheil fehle,
so lieget doch der Fehler nicht so wol bey ihm, als
bey dem andern, und wird indessen durch ein so
demüthiges und liebreiches Urtheil der Liebe u. der
Einigkeit gerathen. Da hingegen, wo einer mehr
seyn will, als der andere, und sich für besser hält,
solches ein Zeichen ist von dem Mangel der Selbst-
Prüfung, und allerley Zerrüttung anrichtet. Ein
Demüthiger wird schwerlich iemanden womit ei-
nen Anstoß geben: wird er aber genommen, so
fällt er doch bald wieder hinweg: sintemal die
Demutheinen Menschen also characterisiret, daß
ihm andere hold seyn müssen, und wenn sie auch
sonst noch so abgeneiget seyn würden.
10. Die Abmahnung ist wider den Zanck
und eitele Ehre gerichtet. Welche beyde Stü-
cke Paulus darum zusa[m]men setzet, weil eines das
andere gebieret, nemlich die eitele Ehre, den
Zanck: wie denn unter de[n] Hoffärtigen immer
Zanck ist, unter den Demüthigen einmüthige
Verträglichkeit. Wer sich nur wohl übet in der
Selbst-Prüfung, und bey allem Guten, das er
hat, erkennet, daß er es allein von GOtt habe,
und wie viel Unvollkommenheit in ihm noch übrig
sey, der bleibet im Gefühle der Armuth des Gei-
stes, und daher vergehet ihm der Ehrgeitz: steiget
er auf, so wird er gecreutziget und getödtet. Hin-
gegen suchet man seine wahre Ehre und den wah-
ren
Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 2, 1-3.
[Spaltenumbruch] darin ſie mit ihm, Paulo, und unter ſich ſelbſt
ſtunden, zu zweifeln. Und daher fuͤhret er dieſes
zu einer Urſache an, welches ſie bewegen koͤnte und
ſolte, ſeiner Ermahnung nachzukommen. Denn
nach dieſem Grunde kam die Ermahnung nicht
ſo wol von Paulo, als durch ihn von dem Heiligen
Geiſte her, welcher ſie daher ſo viel weniger ent-
gegen ſeyn wuͤrden, ſo viel mehr ſie bereits durch
die Salbung des Heiligen Geiſtes zur Gemein-
ſchaft ihres Geiſtes, oder ihres geiſtlichen Sinnes
unter und gegen einander gelanget waren.
5. Und dabey gedencket er zuletzt auch der
recht erbarmenden und mitleidigen Liebe in An-
ſehung ſeiner bisherigen vielen und groſſen Lei-
den, und will damit ſo viel ſagen, daß ſie ſeinen
Ermahnungen ſo viel mehr nachkommen ſolten
und wuͤrden, ſo viel naͤher ihnen ſein bisheriger
Zuſtand ſey zu Hertzen gegangen: wie denn leicht-
lich zu erachten, daß, da er vor dem zu Philippen
oͤffentlich entbloͤſſet u. aufs ſchmaͤhelichſte geſtaͤu-
pet, und noch dazu in das tiefeſte Gefaͤngniß ge-
leget worden Ap. Geſch. 16, 22. u. f. die Glaͤu-
bigen daruͤber in ein ſo viel empfindlicheres Mit-
leiden ſind geſetzet worden, ie lieber u. werther ſie
Paulum hatten. Man ſiehet in der gantzen Re-
de eine beſondere Fuͤlle des zarteſten Afſects und
und groͤſſeſten Ernſts an Paulo.
6. Die Einigkeit des Sinnes forderte
der Apoſtel mit unterſchiedlichen Worten, weil
daran ſonderlich viel gelegen war. Sie ſollen
φρονει῀ν τὸ ἀυτὸ und τὸ ἕν, und ſeyn σύμψυχοι:
gleichwie er ſchon vorher c. 1, 27. eben dergleichen
gefodert hatte. Er ſiehet damit theils auf die
Lehre, theils auf den zu fuͤhrenden rechtſchaffenen
Sinn, daß er bey allen ſolle GOTT ergeben
ſeyn und bleiben. Und was die Lehre betrifft,
ſo war zwar unter den Kirch-Gliedern ein gar un-
terſchiedenes Maß der Erkaͤntniß, daß einige
darinnen weiter ſahen, als andere, ſo wol an ſich
ſelbſt, als auch in Auslegung der Heil. Schrift:
aber ſie ſolten und konten deßwegen doch in allen
Haupt-Stuͤcken eines Glaubens und eines Sin-
nes bleiben. Und daß der Apoſtel dieſes mit
mehrern Worten erinnerte, kam wol ſonderlich
daher, weil er wol wußte, welchen Verſuchun-
gen ſie unterworfen waͤren, da ſolche irrige Ge-
ſetz-Lehrer unter ihnen aufgeſtanden waren, wel-
che unter andern auf die Beſchneidung drungen,
und damit leichtlich allerley Zerruͤttung anrich-
ten konten. Die er daher c. 3, 2. die Zerſchnei-
dung nennet.
7. Nebſt der Einigkeit des Gemuͤths fodert
er gleiche Liebe, als wodurch ſie am meiſten
unterhalten wird. Denn nach der Liebe traͤget
man an dem Naͤchſten und ſuchet an ihm zu beſ-
ſern, was ohne Liebe leichtlich allerley Mißver-
ſtand und Uneinigkeit anrichten koͤnte. Und da
es der Liebe Art iſt, daß ſie eine Gegen-Liebe
wircket und fodert, und wo ſie ſolche nicht fin-
det, daher eine Laſt bekoͤmmt; ſo will er, daß
keiner dem andern mit dem Mangel der Bruder-
Liebe, davon die Rede iſt, und die billig bey al-
len gleich ſeyn ſoll, laͤſtig werde.
8. Gleichwie zur Einigkeit des Geiſtes die
Liebe gehoͤret; alſo gehoͤret zur Liebe die Demuth,
als ohne welche ſie nicht beſtehen kan. Wie denn
[Spaltenumbruch] alle goͤttliche Wahrheiten und Pflichten von der
Art ſind, daß ſie wie eine Kette an einander han-
gen, alſo, daß immer eine die andere theils aus
ſich gebieret, theils unterſtuͤtzet, befoͤrdert und
zieret.
9. Er zeiget aber zugleich an, wie und wo-
mit ſich die wahre Hertzens-Demuth gegen an-
dere erweiſen ſolle, nemlich damit, daß einer den
andern hoͤher halte, als ſich ſelbſt. Da denn
durch das hoͤher halten auch das beſſer, weiſer
und froͤmmer halten zu verſtehen iſt. Da nun
aber die Glieder an dem Leibe CHriſti zum Theil
von einem gar mercklichen Unterſcheide ſind, alſo,
daß das eine dem andern es hieri[nn] und darin-
nen zuvor thut, und die, welche die andern uͤber-
treffen, doch gleichwol, um die Gnade GOttes
an ſich zu erkennen, ſolches wol in Demuth
mercken koͤnnen: ſo fragetſich, wie denn ſolches
mit dem, daß einer den andern hoͤher halten ſolle,
als ſich ſelbſt, beſtehe[n] koͤnne? Gar wohl: der
Grund davon iſt dieſer: Ein ieder von GOTT
erweckter Menſch weiß das, was mit ihm inner-
lich vorgehet, was er fuͤr Maͤngel und Gebre-
chen, was er fuͤr Kaͤmpfe und Verſuchungen
habe, am leſten, beſſer, als ein anderer auſſer
ihm. Hingegen faͤllt einem von einem andern,
der das Boͤſe nicht mehr herrſchen, vielweniger
zum aͤuſſerlichen Ausbruch kommen laͤſſet, das
Gute, welches er aus dem guten Grunde ſeines
He[r]tzens beweiſet, mehr ins Auge und in die Be-
tr[a]chtung, als das in ihm innerlich verborgener
Weiſe noch uͤbrige Boͤſe. Und folglich ſo hat
ein ieder, der in genauer Selbſt-Pruͤfung vor
GOTT wandelt, von ſeiner eignen Unvollkom-
heie und Schwachheit viel mehrere Erfahrung,
als von der, die eines andern iſt. Und daher kan
er auch den andern fuͤr beſſer und getreuer, und
in ſolcher Betrachtung hoͤher halten, als ſich ſelbſt.
Und geſetzt auch, daß er in ſolchem Urtheil fehle,
ſo lieget doch der Fehler nicht ſo wol bey ihm, als
bey dem andern, und wird indeſſen durch ein ſo
demuͤthiges und liebreiches Urtheil der Liebe u. der
Einigkeit gerathen. Da hingegen, wo einer mehr
ſeyn will, als der andere, und ſich fuͤr beſſer haͤlt,
ſolches ein Zeichen iſt von dem Mangel der Selbſt-
Pruͤfung, und allerley Zerruͤttung anrichtet. Ein
Demuͤthiger wird ſchwerlich iemanden womit ei-
nen Anſtoß geben: wird er aber genommen, ſo
faͤllt er doch bald wieder hinweg: ſintemal die
Demutheinen Menſchen alſo characteriſiret, daß
ihm andere hold ſeyn muͤſſen, und wenn ſie auch
ſonſt noch ſo abgeneiget ſeyn wuͤrden.
10. Die Abmahnung iſt wider den Zanck
und eitele Ehre gerichtet. Welche beyde Stuͤ-
cke Paulus darum zuſa[m]men ſetzet, weil eines das
andere gebieret, nemlich die eitele Ehre, den
Zanck: wie denn unter de[n] Hoffaͤrtigen immer
Zanck iſt, unter den Demuͤthigen einmuͤthige
Vertraͤglichkeit. Wer ſich nur wohl uͤbet in der
Selbſt-Pruͤfung, und bey allem Guten, das er
hat, erkennet, daß er es allein von GOtt habe,
und wie viel Unvollkommenheit in ihm noch uͤbrig
ſey, der bleibet im Gefuͤhle der Armuth des Gei-
ſtes, und daher vergehet ihm der Ehrgeitz: ſteiget
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[706/0734] Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 2, 1-3. darin ſie mit ihm, Paulo, und unter ſich ſelbſt ſtunden, zu zweifeln. Und daher fuͤhret er dieſes zu einer Urſache an, welches ſie bewegen koͤnte und ſolte, ſeiner Ermahnung nachzukommen. Denn nach dieſem Grunde kam die Ermahnung nicht ſo wol von Paulo, als durch ihn von dem Heiligen Geiſte her, welcher ſie daher ſo viel weniger ent- gegen ſeyn wuͤrden, ſo viel mehr ſie bereits durch die Salbung des Heiligen Geiſtes zur Gemein- ſchaft ihres Geiſtes, oder ihres geiſtlichen Sinnes unter und gegen einander gelanget waren. 5. Und dabey gedencket er zuletzt auch der recht erbarmenden und mitleidigen Liebe in An- ſehung ſeiner bisherigen vielen und groſſen Lei- den, und will damit ſo viel ſagen, daß ſie ſeinen Ermahnungen ſo viel mehr nachkommen ſolten und wuͤrden, ſo viel naͤher ihnen ſein bisheriger Zuſtand ſey zu Hertzen gegangen: wie denn leicht- lich zu erachten, daß, da er vor dem zu Philippen oͤffentlich entbloͤſſet u. aufs ſchmaͤhelichſte geſtaͤu- pet, und noch dazu in das tiefeſte Gefaͤngniß ge- leget worden Ap. Geſch. 16, 22. u. f. die Glaͤu- bigen daruͤber in ein ſo viel empfindlicheres Mit- leiden ſind geſetzet worden, ie lieber u. werther ſie Paulum hatten. Man ſiehet in der gantzen Re- de eine beſondere Fuͤlle des zarteſten Afſects und und groͤſſeſten Ernſts an Paulo. 6. Die Einigkeit des Sinnes forderte der Apoſtel mit unterſchiedlichen Worten, weil daran ſonderlich viel gelegen war. Sie ſollen φρονει῀ν τὸ ἀυτὸ und τὸ ἕν, und ſeyn σύμψυχοι: gleichwie er ſchon vorher c. 1, 27. eben dergleichen gefodert hatte. Er ſiehet damit theils auf die Lehre, theils auf den zu fuͤhrenden rechtſchaffenen Sinn, daß er bey allen ſolle GOTT ergeben ſeyn und bleiben. Und was die Lehre betrifft, ſo war zwar unter den Kirch-Gliedern ein gar un- terſchiedenes Maß der Erkaͤntniß, daß einige darinnen weiter ſahen, als andere, ſo wol an ſich ſelbſt, als auch in Auslegung der Heil. Schrift: aber ſie ſolten und konten deßwegen doch in allen Haupt-Stuͤcken eines Glaubens und eines Sin- nes bleiben. Und daß der Apoſtel dieſes mit mehrern Worten erinnerte, kam wol ſonderlich daher, weil er wol wußte, welchen Verſuchun- gen ſie unterworfen waͤren, da ſolche irrige Ge- ſetz-Lehrer unter ihnen aufgeſtanden waren, wel- che unter andern auf die Beſchneidung drungen, und damit leichtlich allerley Zerruͤttung anrich- ten konten. Die er daher c. 3, 2. die Zerſchnei- dung nennet. 7. Nebſt der Einigkeit des Gemuͤths fodert er gleiche Liebe, als wodurch ſie am meiſten unterhalten wird. Denn nach der Liebe traͤget man an dem Naͤchſten und ſuchet an ihm zu beſ- ſern, was ohne Liebe leichtlich allerley Mißver- ſtand und Uneinigkeit anrichten koͤnte. Und da es der Liebe Art iſt, daß ſie eine Gegen-Liebe wircket und fodert, und wo ſie ſolche nicht fin- det, daher eine Laſt bekoͤmmt; ſo will er, daß keiner dem andern mit dem Mangel der Bruder- Liebe, davon die Rede iſt, und die billig bey al- len gleich ſeyn ſoll, laͤſtig werde. 8. Gleichwie zur Einigkeit des Geiſtes die Liebe gehoͤret; alſo gehoͤret zur Liebe die Demuth, als ohne welche ſie nicht beſtehen kan. Wie denn alle goͤttliche Wahrheiten und Pflichten von der Art ſind, daß ſie wie eine Kette an einander han- gen, alſo, daß immer eine die andere theils aus ſich gebieret, theils unterſtuͤtzet, befoͤrdert und zieret. 9. Er zeiget aber zugleich an, wie und wo- mit ſich die wahre Hertzens-Demuth gegen an- dere erweiſen ſolle, nemlich damit, daß einer den andern hoͤher halte, als ſich ſelbſt. Da denn durch das hoͤher halten auch das beſſer, weiſer und froͤmmer halten zu verſtehen iſt. Da nun aber die Glieder an dem Leibe CHriſti zum Theil von einem gar mercklichen Unterſcheide ſind, alſo, daß das eine dem andern es hierinn und darin- nen zuvor thut, und die, welche die andern uͤber- treffen, doch gleichwol, um die Gnade GOttes an ſich zu erkennen, ſolches wol in Demuth mercken koͤnnen: ſo fragetſich, wie denn ſolches mit dem, daß einer den andern hoͤher halten ſolle, als ſich ſelbſt, beſtehen koͤnne? Gar wohl: der Grund davon iſt dieſer: Ein ieder von GOTT erweckter Menſch weiß das, was mit ihm inner- lich vorgehet, was er fuͤr Maͤngel und Gebre- chen, was er fuͤr Kaͤmpfe und Verſuchungen habe, am leſten, beſſer, als ein anderer auſſer ihm. Hingegen faͤllt einem von einem andern, der das Boͤſe nicht mehr herrſchen, vielweniger zum aͤuſſerlichen Ausbruch kommen laͤſſet, das Gute, welches er aus dem guten Grunde ſeines Hertzens beweiſet, mehr ins Auge und in die Be- trachtung, als das in ihm innerlich verborgener Weiſe noch uͤbrige Boͤſe. Und folglich ſo hat ein ieder, der in genauer Selbſt-Pruͤfung vor GOTT wandelt, von ſeiner eignen Unvollkom- heie und Schwachheit viel mehrere Erfahrung, als von der, die eines andern iſt. Und daher kan er auch den andern fuͤr beſſer und getreuer, und in ſolcher Betrachtung hoͤher halten, als ſich ſelbſt. Und geſetzt auch, daß er in ſolchem Urtheil fehle, ſo lieget doch der Fehler nicht ſo wol bey ihm, als bey dem andern, und wird indeſſen durch ein ſo demuͤthiges und liebreiches Urtheil der Liebe u. der Einigkeit gerathen. Da hingegen, wo einer mehr ſeyn will, als der andere, und ſich fuͤr beſſer haͤlt, ſolches ein Zeichen iſt von dem Mangel der Selbſt- Pruͤfung, und allerley Zerruͤttung anrichtet. Ein Demuͤthiger wird ſchwerlich iemanden womit ei- nen Anſtoß geben: wird er aber genommen, ſo faͤllt er doch bald wieder hinweg: ſintemal die Demutheinen Menſchen alſo characteriſiret, daß ihm andere hold ſeyn muͤſſen, und wenn ſie auch ſonſt noch ſo abgeneiget ſeyn wuͤrden. 10. Die Abmahnung iſt wider den Zanck und eitele Ehre gerichtet. Welche beyde Stuͤ- cke Paulus darum zuſammen ſetzet, weil eines das andere gebieret, nemlich die eitele Ehre, den Zanck: wie denn unter den Hoffaͤrtigen immer Zanck iſt, unter den Demuͤthigen einmuͤthige Vertraͤglichkeit. Wer ſich nur wohl uͤbet in der Selbſt-Pruͤfung, und bey allem Guten, das er hat, erkennet, daß er es allein von GOtt habe, und wie viel Unvollkommenheit in ihm noch uͤbrig ſey, der bleibet im Gefuͤhle der Armuth des Gei- ſtes, und daher vergehet ihm der Ehrgeitz: ſteiget er auf, ſo wird er gecreutziget und getoͤdtet. Hin- gegen ſuchet man ſeine wahre Ehre und den wah- ren

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Zitationshilfe: Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729, S. 706. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht01_1729/734>, abgerufen am 24.11.2024.