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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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Meine Schwester kam in Sorgen dar-
über und sagte uns, es hätte sie eine Ahn-
dung von Unglück befallen; sie fürchte
das Fräulein nicht mehr zu sehen. Mein
Vater beruhigte uns, und dennoch wurde
auch er bestürzt, da er erfuhr, das Fräu-
lein sey in den Dörfern, die ihr gehörten,
von Haus zu Haus gegangen, hätte al-
len Leuten liebreich zugesprochen, sie be-
schenkt, zu Fleiß und Rechtschaffenheit er-
mahnt, die Allmosen für Wittwen, Wai-
sen, Alte und Kranke vermehrt, dem
Schulmeister eifrig zugeredet, seine Be-
soldung verbessert, und Preiße für die
Kinder ausgesetzt, meinen Schwager, den
Amtmann, mit einer Tabatiere, und mei-
ne Schwester mit einem Ring zum Anden-
ken beschenkt, und den ersten um wahre
Güte und Gerechtigkeit für ihre Untertha-
nen gebeten. Wir weinten alle über die-
se Beschreibung. Mein Vater sprach uns
Muth ein, indem er sagte: Alle melancho-
lischzärtliche Charakter hätten die Art, ih-
ren Handlungen eine gewisse Feyerlichkeit
zu geben, es wäre ihm lieb, daß sie mit

so
F 3

Meine Schweſter kam in Sorgen dar-
uͤber und ſagte uns, es haͤtte ſie eine Ahn-
dung von Ungluͤck befallen; ſie fuͤrchte
das Fraͤulein nicht mehr zu ſehen. Mein
Vater beruhigte uns, und dennoch wurde
auch er beſtuͤrzt, da er erfuhr, das Fraͤu-
lein ſey in den Doͤrfern, die ihr gehoͤrten,
von Haus zu Haus gegangen, haͤtte al-
len Leuten liebreich zugeſprochen, ſie be-
ſchenkt, zu Fleiß und Rechtſchaffenheit er-
mahnt, die Allmoſen fuͤr Wittwen, Wai-
ſen, Alte und Kranke vermehrt, dem
Schulmeiſter eifrig zugeredet, ſeine Be-
ſoldung verbeſſert, und Preiße fuͤr die
Kinder ausgeſetzt, meinen Schwager, den
Amtmann, mit einer Tabatiere, und mei-
ne Schweſter mit einem Ring zum Anden-
ken beſchenkt, und den erſten um wahre
Guͤte und Gerechtigkeit fuͤr ihre Untertha-
nen gebeten. Wir weinten alle uͤber die-
ſe Beſchreibung. Mein Vater ſprach uns
Muth ein, indem er ſagte: Alle melancho-
liſchzaͤrtliche Charakter haͤtten die Art, ih-
ren Handlungen eine gewiſſe Feyerlichkeit
zu geben, es waͤre ihm lieb, daß ſie mit

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[85/0111] Meine Schweſter kam in Sorgen dar- uͤber und ſagte uns, es haͤtte ſie eine Ahn- dung von Ungluͤck befallen; ſie fuͤrchte das Fraͤulein nicht mehr zu ſehen. Mein Vater beruhigte uns, und dennoch wurde auch er beſtuͤrzt, da er erfuhr, das Fraͤu- lein ſey in den Doͤrfern, die ihr gehoͤrten, von Haus zu Haus gegangen, haͤtte al- len Leuten liebreich zugeſprochen, ſie be- ſchenkt, zu Fleiß und Rechtſchaffenheit er- mahnt, die Allmoſen fuͤr Wittwen, Wai- ſen, Alte und Kranke vermehrt, dem Schulmeiſter eifrig zugeredet, ſeine Be- ſoldung verbeſſert, und Preiße fuͤr die Kinder ausgeſetzt, meinen Schwager, den Amtmann, mit einer Tabatiere, und mei- ne Schweſter mit einem Ring zum Anden- ken beſchenkt, und den erſten um wahre Guͤte und Gerechtigkeit fuͤr ihre Untertha- nen gebeten. Wir weinten alle uͤber die- ſe Beſchreibung. Mein Vater ſprach uns Muth ein, indem er ſagte: Alle melancho- liſchzaͤrtliche Charakter haͤtten die Art, ih- ren Handlungen eine gewiſſe Feyerlichkeit zu geben, es waͤre ihm lieb, daß ſie mit ſo F 3

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/111>, abgerufen am 23.11.2024.