Jch habe einen Entwurf dazu gemacht, und ihren rechtschaffenen Mann, den ein- sichtvollen Herrn Br* bitte, ihn auszuar- beiten, und zu verbessern. Denn ich se- he wohl ein, daß die Erfahrung und das Nachdenken eines zwanzigjährigen Mäd- chens nicht hinreichend ist, die dieser Fa- milie auf allen Seiten nöthige Anweisung zu einer richtigen Denkungsart zu ge- ben. Sie, meine Emilia, werden sehen, daß meine Gedanken meistens Auszüge aus den Papieren meiner Erziehung sind, die ich auf diesen Fall anzupassen suchte. Es ist für den Reichen schwer, dem Ar- men einen angenehmen Rath zu geben; denn dieser wird den Ernst des erstern bey seinen moralischen Jdeen immer in Zwei- fel ziehen, und seine Ermahnungen zu Fleiß und Genügsamkeit, als Kennzeichen annehmen, daß er seiner Wohlthätigkeit müde sey; und dieser Gedanke wird alle gute Würkungen verhindern. Zwey Ta- ge von Zerstreuung haben mein Schreiben, wo ich bey dem Rath T* stehen blieb, un- terbrochen. Wollte Gott, ich hätte ihn
reich
Jch habe einen Entwurf dazu gemacht, und ihren rechtſchaffenen Mann, den ein- ſichtvollen Herrn Br* bitte, ihn auszuar- beiten, und zu verbeſſern. Denn ich ſe- he wohl ein, daß die Erfahrung und das Nachdenken eines zwanzigjaͤhrigen Maͤd- chens nicht hinreichend iſt, die dieſer Fa- milie auf allen Seiten noͤthige Anweiſung zu einer richtigen Denkungsart zu ge- ben. Sie, meine Emilia, werden ſehen, daß meine Gedanken meiſtens Auszuͤge aus den Papieren meiner Erziehung ſind, die ich auf dieſen Fall anzupaſſen ſuchte. Es iſt fuͤr den Reichen ſchwer, dem Ar- men einen angenehmen Rath zu geben; denn dieſer wird den Ernſt des erſtern bey ſeinen moraliſchen Jdeen immer in Zwei- fel ziehen, und ſeine Ermahnungen zu Fleiß und Genuͤgſamkeit, als Kennzeichen annehmen, daß er ſeiner Wohlthaͤtigkeit muͤde ſey; und dieſer Gedanke wird alle gute Wuͤrkungen verhindern. Zwey Ta- ge von Zerſtreuung haben mein Schreiben, wo ich bey dem Rath T* ſtehen blieb, un- terbrochen. Wollte Gott, ich haͤtte ihn
reich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0304"n="278"/>
Jch habe einen Entwurf dazu gemacht,<lb/>
und ihren rechtſchaffenen Mann, den ein-<lb/>ſichtvollen Herrn Br* bitte, ihn auszuar-<lb/>
beiten, und zu verbeſſern. Denn ich ſe-<lb/>
he wohl ein, daß die Erfahrung und das<lb/>
Nachdenken eines zwanzigjaͤhrigen Maͤd-<lb/>
chens nicht hinreichend iſt, die dieſer Fa-<lb/>
milie auf allen Seiten noͤthige Anweiſung<lb/>
zu einer richtigen Denkungsart zu ge-<lb/>
ben. Sie, meine Emilia, werden ſehen,<lb/>
daß meine Gedanken meiſtens Auszuͤge<lb/>
aus den Papieren meiner Erziehung ſind,<lb/>
die ich auf dieſen Fall anzupaſſen ſuchte.<lb/>
Es iſt fuͤr den Reichen ſchwer, dem Ar-<lb/>
men einen angenehmen Rath zu geben;<lb/>
denn dieſer wird den Ernſt des erſtern bey<lb/>ſeinen moraliſchen Jdeen immer in Zwei-<lb/>
fel ziehen, und ſeine Ermahnungen zu<lb/>
Fleiß und Genuͤgſamkeit, als Kennzeichen<lb/>
annehmen, daß er ſeiner Wohlthaͤtigkeit<lb/>
muͤde ſey; und dieſer Gedanke wird alle<lb/>
gute Wuͤrkungen verhindern. Zwey Ta-<lb/>
ge von Zerſtreuung haben mein Schreiben,<lb/>
wo ich bey dem Rath T* ſtehen blieb, un-<lb/>
terbrochen. Wollte Gott, ich haͤtte ihn<lb/><fwplace="bottom"type="catch">reich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[278/0304]
Jch habe einen Entwurf dazu gemacht,
und ihren rechtſchaffenen Mann, den ein-
ſichtvollen Herrn Br* bitte, ihn auszuar-
beiten, und zu verbeſſern. Denn ich ſe-
he wohl ein, daß die Erfahrung und das
Nachdenken eines zwanzigjaͤhrigen Maͤd-
chens nicht hinreichend iſt, die dieſer Fa-
milie auf allen Seiten noͤthige Anweiſung
zu einer richtigen Denkungsart zu ge-
ben. Sie, meine Emilia, werden ſehen,
daß meine Gedanken meiſtens Auszuͤge
aus den Papieren meiner Erziehung ſind,
die ich auf dieſen Fall anzupaſſen ſuchte.
Es iſt fuͤr den Reichen ſchwer, dem Ar-
men einen angenehmen Rath zu geben;
denn dieſer wird den Ernſt des erſtern bey
ſeinen moraliſchen Jdeen immer in Zwei-
fel ziehen, und ſeine Ermahnungen zu
Fleiß und Genuͤgſamkeit, als Kennzeichen
annehmen, daß er ſeiner Wohlthaͤtigkeit
muͤde ſey; und dieſer Gedanke wird alle
gute Wuͤrkungen verhindern. Zwey Ta-
ge von Zerſtreuung haben mein Schreiben,
wo ich bey dem Rath T* ſtehen blieb, un-
terbrochen. Wollte Gott, ich haͤtte ihn
reich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/304>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.