[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.ten Baums aufgewachsen waren, machten mich sagen: bin ich nicht wie ein junger Baum, der in seiner vollen Blüthe durch Schläge eines unglücklichen Schicksals seiner Crone und seines Stammes be- raubt wurde? lange Zeit steht der Ueber- rest traurig und trocken da, endlich aber sprosseu aus der Wurzel neue Zweige her- vor, die unter dem Schutz der Natur wie- der stark und hoch genug werden können, in einem gewissen Zeitlauf wieder wohl- thätige Schatten um sich zu verbreiten. Mein Ruhm, mein glückliches Aussehen, meine Stelle in der großen Welt hab' ich verloren; lange betäubte der Schmerz meine Seele, bis die Zeit meine Empfind- lichkeit verringerte, die Wurzeln meines Lebens, welche mein Schicksal unberührt ließ, neue Kräft sammelten, und die gu- ten Grundsätze meiner Erziehung, frische, obwohl kleine Zweige von Wohlthätigkeit und Nutzen für meine Nebenmenschen em- portrieben. Sie sind, wie die Wurzel- zweige meines Ebenbildes bey niedrigem Moos,
ten Baums aufgewachſen waren, machten mich ſagen: bin ich nicht wie ein junger Baum, der in ſeiner vollen Bluͤthe durch Schlaͤge eines ungluͤcklichen Schickſals ſeiner Crone und ſeines Stammes be- raubt wurde? lange Zeit ſteht der Ueber- reſt traurig und trocken da, endlich aber ſproſſeu aus der Wurzel neue Zweige her- vor, die unter dem Schutz der Natur wie- der ſtark und hoch genug werden koͤnnen, in einem gewiſſen Zeitlauf wieder wohl- thaͤtige Schatten um ſich zu verbreiten. Mein Ruhm, mein gluͤckliches Ausſehen, meine Stelle in der großen Welt hab’ ich verloren; lange betaͤubte der Schmerz meine Seele, bis die Zeit meine Empfind- lichkeit verringerte, die Wurzeln meines Lebens, welche mein Schickſal unberuͤhrt ließ, neue Kraͤft ſammelten, und die gu- ten Grundſaͤtze meiner Erziehung, friſche, obwohl kleine Zweige von Wohlthaͤtigkeit und Nutzen fuͤr meine Nebenmenſchen em- portrieben. Sie ſind, wie die Wurzel- zweige meines Ebenbildes bey niedrigem Moos,
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Zweige, die aus der Wurzel eines geſtuͤrz-
ten Baums aufgewachſen waren, machten
mich ſagen: bin ich nicht wie ein junger
Baum, der in ſeiner vollen Bluͤthe durch
Schlaͤge eines ungluͤcklichen Schickſals
ſeiner Crone und ſeines Stammes be-
raubt wurde? lange Zeit ſteht der Ueber-
reſt traurig und trocken da, endlich aber
ſproſſeu aus der Wurzel neue Zweige her-
vor, die unter dem Schutz der Natur wie-
der ſtark und hoch genug werden koͤnnen,
in einem gewiſſen Zeitlauf wieder wohl-
thaͤtige Schatten um ſich zu verbreiten.
Mein Ruhm, mein gluͤckliches Ausſehen,
meine Stelle in der großen Welt hab’ ich
verloren; lange betaͤubte der Schmerz
meine Seele, bis die Zeit meine Empfind-
lichkeit verringerte, die Wurzeln meines
Lebens, welche mein Schickſal unberuͤhrt
ließ, neue Kraͤft ſammelten, und die gu-
ten Grundſaͤtze meiner Erziehung, friſche,
obwohl kleine Zweige von Wohlthaͤtigkeit
und Nutzen fuͤr meine Nebenmenſchen em-
portrieben. Sie ſind, wie die Wurzel-
zweige meines Ebenbildes bey niedrigem
Moos,
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