das junge Frauenzimmer alle Merkmale der edelsten Erziehung, der vollkommen- sten Tugend, und der feinsten weiblichen Zärtlichkeit in ihrem Betragen hätte. Er vermuthete, ein Bösewicht habe ihre Gut- herzigkeit betrogen, und dadurch den Grund des Kummers gelegt, mit wel- chem er sie immer kämpfen sehen. War es nicht eine verdammte Sache, alles dieses anzuhören und fremde zu scheinen? Er wies mir ihr Bildniß wohl getroffen, vor einem Tische, wo ein Gestelle mit Schmetterlingen war, von denen sie, ich weiß nicht welchen, Gebrauch zu einem Fest machen wollte, so mir zu Ehren an- gestellt werden sollte, und wovon sie die Erfinderinn war. Der Einfall war nicht gut gewählt; sie verstund sich wenig auf die Schmetterlingsjagd, sonst hätte sie meine Fittige nicht freygelassen. Aber ihr Bild machte mehr Eindruck auf mich als alle Züge von ihrem Charakter. Es ist, bey meinem Leben! Schade um sie; und ich möchte wissen, was sie bey der Vor- sicht, die sie doch so stark verehrt, ver-
schuldet
das junge Frauenzimmer alle Merkmale der edelſten Erziehung, der vollkommen- ſten Tugend, und der feinſten weiblichen Zaͤrtlichkeit in ihrem Betragen haͤtte. Er vermuthete, ein Boͤſewicht habe ihre Gut- herzigkeit betrogen, und dadurch den Grund des Kummers gelegt, mit wel- chem er ſie immer kaͤmpfen ſehen. War es nicht eine verdammte Sache, alles dieſes anzuhoͤren und fremde zu ſcheinen? Er wies mir ihr Bildniß wohl getroffen, vor einem Tiſche, wo ein Geſtelle mit Schmetterlingen war, von denen ſie, ich weiß nicht welchen, Gebrauch zu einem Feſt machen wollte, ſo mir zu Ehren an- geſtellt werden ſollte, und wovon ſie die Erfinderinn war. Der Einfall war nicht gut gewaͤhlt; ſie verſtund ſich wenig auf die Schmetterlingsjagd, ſonſt haͤtte ſie meine Fittige nicht freygelaſſen. Aber ihr Bild machte mehr Eindruck auf mich als alle Zuͤge von ihrem Charakter. Es iſt, bey meinem Leben! Schade um ſie; und ich moͤchte wiſſen, was ſie bey der Vor- ſicht, die ſie doch ſo ſtark verehrt, ver-
ſchuldet
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[204/0210]
das junge Frauenzimmer alle Merkmale
der edelſten Erziehung, der vollkommen-
ſten Tugend, und der feinſten weiblichen
Zaͤrtlichkeit in ihrem Betragen haͤtte. Er
vermuthete, ein Boͤſewicht habe ihre Gut-
herzigkeit betrogen, und dadurch den
Grund des Kummers gelegt, mit wel-
chem er ſie immer kaͤmpfen ſehen. War
es nicht eine verdammte Sache, alles
dieſes anzuhoͤren und fremde zu ſcheinen?
Er wies mir ihr Bildniß wohl getroffen,
vor einem Tiſche, wo ein Geſtelle mit
Schmetterlingen war, von denen ſie, ich
weiß nicht welchen, Gebrauch zu einem
Feſt machen wollte, ſo mir zu Ehren an-
geſtellt werden ſollte, und wovon ſie die
Erfinderinn war. Der Einfall war nicht
gut gewaͤhlt; ſie verſtund ſich wenig auf
die Schmetterlingsjagd, ſonſt haͤtte ſie
meine Fittige nicht freygelaſſen. Aber
ihr Bild machte mehr Eindruck auf mich
als alle Zuͤge von ihrem Charakter. Es
iſt, bey meinem Leben! Schade um ſie;
und ich moͤchte wiſſen, was ſie bey der Vor-
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/210>, abgerufen am 24.11.2024.
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