Reizende Creatur, warum bliebst du nicht so gesinnt? warum zeigtest du mir deine sympathetische Neigung zu Sey- mour?
Die übrigen Tage suchte ich munter zu seyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht, und sie war gefällig genug, mir ein artiges welsches Liedchen zu singen, welches sie selbst gemacht hatte, und worinn sie die Venus um ihren Gürtel bat, um das Herz, so sie liebte, auf ewig damit an sich zu ziehen. Die Gedanken waren schön und fein ausgedrückt, die Melodie rührend, und ihre Stimme so voll Affect, daß ich ihr mit der süßesten und stärksten Leiden- schaft zuhörte. Aber mein schöner Traum verflog durch die Beobachtung, daß sie bey den zärtlichsten Stellen, die sie am besten sang, nicht mich, sondern mit hän- gendem Kopfe die Erde ansah, und Seuf- zer ausstieß, welche gewiß nicht mich zum Gegenstande hatten. Jch fragte sie am Ende, ob sie dieses Lied heute zum er- stenmale gesungen? Nein, sagte sie errö- thend; dieses veranlaßte noch einige Fra-
gen
Reizende Creatur, warum bliebſt du nicht ſo geſinnt? warum zeigteſt du mir deine ſympathetiſche Neigung zu Sey- mour?
Die uͤbrigen Tage ſuchte ich munter zu ſeyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht, und ſie war gefaͤllig genug, mir ein artiges welſches Liedchen zu ſingen, welches ſie ſelbſt gemacht hatte, und worinn ſie die Venus um ihren Guͤrtel bat, um das Herz, ſo ſie liebte, auf ewig damit an ſich zu ziehen. Die Gedanken waren ſchoͤn und fein ausgedruͤckt, die Melodie ruͤhrend, und ihre Stimme ſo voll Affect, daß ich ihr mit der ſuͤßeſten und ſtaͤrkſten Leiden- ſchaft zuhoͤrte. Aber mein ſchoͤner Traum verflog durch die Beobachtung, daß ſie bey den zaͤrtlichſten Stellen, die ſie am beſten ſang, nicht mich, ſondern mit haͤn- gendem Kopfe die Erde anſah, und Seuf- zer ausſtieß, welche gewiß nicht mich zum Gegenſtande hatten. Jch fragte ſie am Ende, ob ſie dieſes Lied heute zum er- ſtenmale geſungen? Nein, ſagte ſie erroͤ- thend; dieſes veranlaßte noch einige Fra-
gen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0044"n="38"/><fwplace="top"type="header"><lb/></fw><p>Reizende Creatur, warum bliebſt du<lb/>
nicht ſo geſinnt? warum zeigteſt du mir<lb/>
deine ſympathetiſche Neigung zu <hirendition="#fr">Sey-<lb/>
mour?</hi></p><lb/><p>Die uͤbrigen Tage ſuchte ich munter zu<lb/>ſeyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht,<lb/>
und ſie war gefaͤllig genug, mir ein artiges<lb/>
welſches Liedchen zu ſingen, welches ſie<lb/>ſelbſt gemacht hatte, und worinn ſie die<lb/>
Venus um ihren Guͤrtel bat, um das Herz,<lb/>ſo ſie liebte, auf ewig damit an ſich zu<lb/>
ziehen. Die Gedanken waren ſchoͤn und<lb/>
fein ausgedruͤckt, die Melodie ruͤhrend,<lb/>
und ihre Stimme ſo voll Affect, daß ich<lb/>
ihr mit der ſuͤßeſten und ſtaͤrkſten Leiden-<lb/>ſchaft zuhoͤrte. Aber mein ſchoͤner Traum<lb/>
verflog durch die Beobachtung, daß ſie<lb/>
bey den zaͤrtlichſten Stellen, die ſie am<lb/>
beſten ſang, nicht mich, ſondern mit haͤn-<lb/>
gendem Kopfe die Erde anſah, und Seuf-<lb/>
zer ausſtieß, welche gewiß nicht mich zum<lb/>
Gegenſtande hatten. Jch fragte ſie am<lb/>
Ende, ob ſie dieſes Lied heute zum er-<lb/>ſtenmale geſungen? Nein, ſagte ſie erroͤ-<lb/>
thend; dieſes veranlaßte noch einige Fra-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">gen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[38/0044]
Reizende Creatur, warum bliebſt du
nicht ſo geſinnt? warum zeigteſt du mir
deine ſympathetiſche Neigung zu Sey-
mour?
Die uͤbrigen Tage ſuchte ich munter zu
ſeyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht,
und ſie war gefaͤllig genug, mir ein artiges
welſches Liedchen zu ſingen, welches ſie
ſelbſt gemacht hatte, und worinn ſie die
Venus um ihren Guͤrtel bat, um das Herz,
ſo ſie liebte, auf ewig damit an ſich zu
ziehen. Die Gedanken waren ſchoͤn und
fein ausgedruͤckt, die Melodie ruͤhrend,
und ihre Stimme ſo voll Affect, daß ich
ihr mit der ſuͤßeſten und ſtaͤrkſten Leiden-
ſchaft zuhoͤrte. Aber mein ſchoͤner Traum
verflog durch die Beobachtung, daß ſie
bey den zaͤrtlichſten Stellen, die ſie am
beſten ſang, nicht mich, ſondern mit haͤn-
gendem Kopfe die Erde anſah, und Seuf-
zer ausſtieß, welche gewiß nicht mich zum
Gegenſtande hatten. Jch fragte ſie am
Ende, ob ſie dieſes Lied heute zum er-
ſtenmale geſungen? Nein, ſagte ſie erroͤ-
thend; dieſes veranlaßte noch einige Fra-
gen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/44>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.