Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

Reizende Creatur, warum bliebst du
nicht so gesinnt? warum zeigtest du mir
deine sympathetische Neigung zu Sey-
mour?

Die übrigen Tage suchte ich munter zu
seyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht,
und sie war gefällig genug, mir ein artiges
welsches Liedchen zu singen, welches sie
selbst gemacht hatte, und worinn sie die
Venus um ihren Gürtel bat, um das Herz,
so sie liebte, auf ewig damit an sich zu
ziehen. Die Gedanken waren schön und
fein ausgedrückt, die Melodie rührend,
und ihre Stimme so voll Affect, daß ich
ihr mit der süßesten und stärksten Leiden-
schaft zuhörte. Aber mein schöner Traum
verflog durch die Beobachtung, daß sie
bey den zärtlichsten Stellen, die sie am
besten sang, nicht mich, sondern mit hän-
gendem Kopfe die Erde ansah, und Seuf-
zer ausstieß, welche gewiß nicht mich zum
Gegenstande hatten. Jch fragte sie am
Ende, ob sie dieses Lied heute zum er-
stenmale gesungen? Nein, sagte sie errö-
thend; dieses veranlaßte noch einige Fra-

gen

Reizende Creatur, warum bliebſt du
nicht ſo geſinnt? warum zeigteſt du mir
deine ſympathetiſche Neigung zu Sey-
mour?

Die uͤbrigen Tage ſuchte ich munter zu
ſeyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht,
und ſie war gefaͤllig genug, mir ein artiges
welſches Liedchen zu ſingen, welches ſie
ſelbſt gemacht hatte, und worinn ſie die
Venus um ihren Guͤrtel bat, um das Herz,
ſo ſie liebte, auf ewig damit an ſich zu
ziehen. Die Gedanken waren ſchoͤn und
fein ausgedruͤckt, die Melodie ruͤhrend,
und ihre Stimme ſo voll Affect, daß ich
ihr mit der ſuͤßeſten und ſtaͤrkſten Leiden-
ſchaft zuhoͤrte. Aber mein ſchoͤner Traum
verflog durch die Beobachtung, daß ſie
bey den zaͤrtlichſten Stellen, die ſie am
beſten ſang, nicht mich, ſondern mit haͤn-
gendem Kopfe die Erde anſah, und Seuf-
zer ausſtieß, welche gewiß nicht mich zum
Gegenſtande hatten. Jch fragte ſie am
Ende, ob ſie dieſes Lied heute zum er-
ſtenmale geſungen? Nein, ſagte ſie erroͤ-
thend; dieſes veranlaßte noch einige Fra-

gen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0044" n="38"/>
          <fw place="top" type="header"><lb/>
          </fw>
          <p>Reizende Creatur, warum blieb&#x017F;t du<lb/>
nicht &#x017F;o ge&#x017F;innt? warum zeigte&#x017F;t du mir<lb/>
deine &#x017F;ympatheti&#x017F;che Neigung zu <hi rendition="#fr">Sey-<lb/>
mour?</hi></p><lb/>
          <p>Die u&#x0364;brigen Tage &#x017F;uchte ich munter zu<lb/>
&#x017F;eyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht,<lb/>
und &#x017F;ie war gefa&#x0364;llig genug, mir ein artiges<lb/>
wel&#x017F;ches Liedchen zu &#x017F;ingen, welches &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t gemacht hatte, und worinn &#x017F;ie die<lb/>
Venus um ihren Gu&#x0364;rtel bat, um das Herz,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ie liebte, auf ewig damit an &#x017F;ich zu<lb/>
ziehen. Die Gedanken waren &#x017F;cho&#x0364;n und<lb/>
fein ausgedru&#x0364;ckt, die Melodie ru&#x0364;hrend,<lb/>
und ihre Stimme &#x017F;o voll Affect, daß ich<lb/>
ihr mit der &#x017F;u&#x0364;ße&#x017F;ten und &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Leiden-<lb/>
&#x017F;chaft zuho&#x0364;rte. Aber mein &#x017F;cho&#x0364;ner Traum<lb/>
verflog durch die Beobachtung, daß &#x017F;ie<lb/>
bey den za&#x0364;rtlich&#x017F;ten Stellen, die &#x017F;ie am<lb/>
be&#x017F;ten &#x017F;ang, nicht mich, &#x017F;ondern mit ha&#x0364;n-<lb/>
gendem Kopfe die Erde an&#x017F;ah, und Seuf-<lb/>
zer aus&#x017F;tieß, welche gewiß nicht mich zum<lb/>
Gegen&#x017F;tande hatten. Jch fragte &#x017F;ie am<lb/>
Ende, ob &#x017F;ie die&#x017F;es Lied heute zum er-<lb/>
&#x017F;tenmale ge&#x017F;ungen? Nein, &#x017F;agte &#x017F;ie erro&#x0364;-<lb/>
thend; die&#x017F;es veranlaßte noch einige Fra-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0044] Reizende Creatur, warum bliebſt du nicht ſo geſinnt? warum zeigteſt du mir deine ſympathetiſche Neigung zu Sey- mour? Die uͤbrigen Tage ſuchte ich munter zu ſeyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht, und ſie war gefaͤllig genug, mir ein artiges welſches Liedchen zu ſingen, welches ſie ſelbſt gemacht hatte, und worinn ſie die Venus um ihren Guͤrtel bat, um das Herz, ſo ſie liebte, auf ewig damit an ſich zu ziehen. Die Gedanken waren ſchoͤn und fein ausgedruͤckt, die Melodie ruͤhrend, und ihre Stimme ſo voll Affect, daß ich ihr mit der ſuͤßeſten und ſtaͤrkſten Leiden- ſchaft zuhoͤrte. Aber mein ſchoͤner Traum verflog durch die Beobachtung, daß ſie bey den zaͤrtlichſten Stellen, die ſie am beſten ſang, nicht mich, ſondern mit haͤn- gendem Kopfe die Erde anſah, und Seuf- zer ausſtieß, welche gewiß nicht mich zum Gegenſtande hatten. Jch fragte ſie am Ende, ob ſie dieſes Lied heute zum er- ſtenmale geſungen? Nein, ſagte ſie erroͤ- thend; dieſes veranlaßte noch einige Fra- gen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/44
Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/44>, abgerufen am 21.11.2024.