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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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ben zu arbeiten. Warum, sag' ich dann,
warum ist die moralische Welt ihrer Be-
stimmung nicht eben so getreu, als die
physicalische? Die Frucht der Eiche brach-
te niemals was anders, als einen Eich-
baum hervor; der Weinstock allezeit Trau-
ben; warum ein großer Mann klein den-
kende Söhne? -- warum der nützliche
Gelehrte und Künstler unwissende elende
Nachkömmlinge? -- tugendhafte Aeltern
Bösewichter? -- Jch denke über diese
Ungleichheit, und der Zufall zeigt mir eine
unzählige Menge Hindernisse, die in der
moralischen Welt (so wie es auch öfters
in der physicalischen begegnet) Ursache
sind, daß der beste Weinstock aus Man-
gel guter Witterung saure, unbrauchbare
Trauben trägt -- und vortreffliche Ael-
tern schlechte Kinder erwachsen sehen.
Etliche Schritte weiter in meiner Vorstel-
lung stehe ich still, kehre in mich selbst zu-
rück und sage: ist nicht die helle Aussicht
meiner glücklichen Tage auch trübe ge-
worden, und der äußerliche Schimmer
wie vertrocknetes Laub von mir abgefal-

len?
F 2


ben zu arbeiten. Warum, ſag’ ich dann,
warum iſt die moraliſche Welt ihrer Be-
ſtimmung nicht eben ſo getreu, als die
phyſicaliſche? Die Frucht der Eiche brach-
te niemals was anders, als einen Eich-
baum hervor; der Weinſtock allezeit Trau-
ben; warum ein großer Mann klein den-
kende Soͤhne? — warum der nuͤtzliche
Gelehrte und Kuͤnſtler unwiſſende elende
Nachkoͤmmlinge? — tugendhafte Aeltern
Boͤſewichter? — Jch denke uͤber dieſe
Ungleichheit, und der Zufall zeigt mir eine
unzaͤhlige Menge Hinderniſſe, die in der
moraliſchen Welt (ſo wie es auch oͤfters
in der phyſicaliſchen begegnet) Urſache
ſind, daß der beſte Weinſtock aus Man-
gel guter Witterung ſaure, unbrauchbare
Trauben traͤgt — und vortreffliche Ael-
tern ſchlechte Kinder erwachſen ſehen.
Etliche Schritte weiter in meiner Vorſtel-
lung ſtehe ich ſtill, kehre in mich ſelbſt zu-
ruͤck und ſage: iſt nicht die helle Ausſicht
meiner gluͤcklichen Tage auch truͤbe ge-
worden, und der aͤußerliche Schimmer
wie vertrocknetes Laub von mir abgefal-

len?
F 2
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[83/0089] ben zu arbeiten. Warum, ſag’ ich dann, warum iſt die moraliſche Welt ihrer Be- ſtimmung nicht eben ſo getreu, als die phyſicaliſche? Die Frucht der Eiche brach- te niemals was anders, als einen Eich- baum hervor; der Weinſtock allezeit Trau- ben; warum ein großer Mann klein den- kende Soͤhne? — warum der nuͤtzliche Gelehrte und Kuͤnſtler unwiſſende elende Nachkoͤmmlinge? — tugendhafte Aeltern Boͤſewichter? — Jch denke uͤber dieſe Ungleichheit, und der Zufall zeigt mir eine unzaͤhlige Menge Hinderniſſe, die in der moraliſchen Welt (ſo wie es auch oͤfters in der phyſicaliſchen begegnet) Urſache ſind, daß der beſte Weinſtock aus Man- gel guter Witterung ſaure, unbrauchbare Trauben traͤgt — und vortreffliche Ael- tern ſchlechte Kinder erwachſen ſehen. Etliche Schritte weiter in meiner Vorſtel- lung ſtehe ich ſtill, kehre in mich ſelbſt zu- ruͤck und ſage: iſt nicht die helle Ausſicht meiner gluͤcklichen Tage auch truͤbe ge- worden, und der aͤußerliche Schimmer wie vertrocknetes Laub von mir abgefal- len? F 2

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/89>, abgerufen am 21.11.2024.