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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Aristoteles: Mangel quantitativer Bestimmungen.
Trockenstoff. Dann würde man nicht erst die fremdartige
Vorstellung zu überwinden haben, daß alle Dinge aus Feuer,
Wasser, Luft und Erde bestehen, sondern es läge uns näher,
an ihre gegenseitige Einwirkung zur Erzeugung ganz neuer
Stoffe in den Verbindungen zu denken. Ebenso ist es dann
deutlicher, daß die Erde z. B. nicht das Element Erde ist, sondern
eine Verbindung von viel Trockenstoff mit etwas Kältestoff
und wenig Wärmestoff und Flüssigkeitsstoff. Doch darf bei
allen diesen Versuchen zu Vergleichungen mit modernen Be-
griffen nicht vergessen werden, daß dieselben immer schief
ausfallen müssen, weil der Charakter und die Tendenz der
aristotelischen Naturerklärung, welche auf der Vereinigung der
Eigenschaften durch die substanziellen Formen, nicht der ma-
teriellen Teilchen durch mechanische Kräfte beruht, von unsrer
Denkgewohnheit durchaus verschieden ist. Auch die Bezeich-
nung der Elemente als "Allotropien des Urstoffs"1 ist daher
irreführend, weil die Materie bei Aristoteles gar kein Stoff
in unsrem Sinne, sondern nur die reine Potenzialität zum
Sein ist.

Besonders auffallend ist in den Bestimmungen des Aristoteles
der Mangel an Rücksicht auf das Quantitative. Wo sich Größen-
angaben finden, sind sie unbestimmt, und Experimente, wenn
sie angeführt werden, haben oft so falsche Resultate, daß die
Ungenauigkeit auf der Hand liegt, so z. B. wenn angegeben
wird, daß ein Gefäß voll Asche ebensoviel Wasser aufnehme,
als wenn es leer sei.2 Dieser Mangel, welcher vornehmlich
die ältere Naturwissenschaft beschränkte, erklärt sich aus der
Anwendung der Substanzialität als Denkmittel.3 Dadurch
wurde die Aufmerksamkeit der Forschung allein auf qualita-
tive Bestimmung der Substanz, wie des Subjekts durch seine
Prädikate, gerichtet. Es gab kein Mittel, die Empfindung in
genügender Weise räumlich zu objektivieren und dadurch
Intensitätsunterschiede quantitativ darzustellen. Hier eben
war die Grenze des antiken Denkens erreicht und damit die
Beschränkung des Naturbegriffs beschlossen. Aristoteles hat

1 S. Lorscheid, Aristoteles' Einfluß auf die Entwickelung der Chemie.
Münster 1872. S. 17.
2 Phys. IV, 6, p. 213 a. 21.
3 Vgl. S. 46.
7*

Aristoteles: Mangel quantitativer Bestimmungen.
Trockenstoff. Dann würde man nicht erst die fremdartige
Vorstellung zu überwinden haben, daß alle Dinge aus Feuer,
Wasser, Luft und Erde bestehen, sondern es läge uns näher,
an ihre gegenseitige Einwirkung zur Erzeugung ganz neuer
Stoffe in den Verbindungen zu denken. Ebenso ist es dann
deutlicher, daß die Erde z. B. nicht das Element Erde ist, sondern
eine Verbindung von viel Trockenstoff mit etwas Kältestoff
und wenig Wärmestoff und Flüssigkeitsstoff. Doch darf bei
allen diesen Versuchen zu Vergleichungen mit modernen Be-
griffen nicht vergessen werden, daß dieselben immer schief
ausfallen müssen, weil der Charakter und die Tendenz der
aristotelischen Naturerklärung, welche auf der Vereinigung der
Eigenschaften durch die substanziellen Formen, nicht der ma-
teriellen Teilchen durch mechanische Kräfte beruht, von unsrer
Denkgewohnheit durchaus verschieden ist. Auch die Bezeich-
nung der Elemente als „Allotropien des Urstoffs‟1 ist daher
irreführend, weil die Materie bei Aristoteles gar kein Stoff
in unsrem Sinne, sondern nur die reine Potenzialität zum
Sein ist.

Besonders auffallend ist in den Bestimmungen des Aristoteles
der Mangel an Rücksicht auf das Quantitative. Wo sich Größen-
angaben finden, sind sie unbestimmt, und Experimente, wenn
sie angeführt werden, haben oft so falsche Resultate, daß die
Ungenauigkeit auf der Hand liegt, so z. B. wenn angegeben
wird, daß ein Gefäß voll Asche ebensoviel Wasser aufnehme,
als wenn es leer sei.2 Dieser Mangel, welcher vornehmlich
die ältere Naturwissenschaft beschränkte, erklärt sich aus der
Anwendung der Substanzialität als Denkmittel.3 Dadurch
wurde die Aufmerksamkeit der Forschung allein auf qualita-
tive Bestimmung der Substanz, wie des Subjekts durch seine
Prädikate, gerichtet. Es gab kein Mittel, die Empfindung in
genügender Weise räumlich zu objektivieren und dadurch
Intensitätsunterschiede quantitativ darzustellen. Hier eben
war die Grenze des antiken Denkens erreicht und damit die
Beschränkung des Naturbegriffs beschlossen. Aristoteles hat

1 S. Lorscheid, Aristoteles’ Einfluß auf die Entwickelung der Chemie.
Münster 1872. S. 17.
2 Phys. IV, 6, p. 213 a. 21.
3 Vgl. S. 46.
7*
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[99/0117] Aristoteles: Mangel quantitativer Bestimmungen. Trockenstoff. Dann würde man nicht erst die fremdartige Vorstellung zu überwinden haben, daß alle Dinge aus Feuer, Wasser, Luft und Erde bestehen, sondern es läge uns näher, an ihre gegenseitige Einwirkung zur Erzeugung ganz neuer Stoffe in den Verbindungen zu denken. Ebenso ist es dann deutlicher, daß die Erde z. B. nicht das Element Erde ist, sondern eine Verbindung von viel Trockenstoff mit etwas Kältestoff und wenig Wärmestoff und Flüssigkeitsstoff. Doch darf bei allen diesen Versuchen zu Vergleichungen mit modernen Be- griffen nicht vergessen werden, daß dieselben immer schief ausfallen müssen, weil der Charakter und die Tendenz der aristotelischen Naturerklärung, welche auf der Vereinigung der Eigenschaften durch die substanziellen Formen, nicht der ma- teriellen Teilchen durch mechanische Kräfte beruht, von unsrer Denkgewohnheit durchaus verschieden ist. Auch die Bezeich- nung der Elemente als „Allotropien des Urstoffs‟ 1 ist daher irreführend, weil die Materie bei Aristoteles gar kein Stoff in unsrem Sinne, sondern nur die reine Potenzialität zum Sein ist. Besonders auffallend ist in den Bestimmungen des Aristoteles der Mangel an Rücksicht auf das Quantitative. Wo sich Größen- angaben finden, sind sie unbestimmt, und Experimente, wenn sie angeführt werden, haben oft so falsche Resultate, daß die Ungenauigkeit auf der Hand liegt, so z. B. wenn angegeben wird, daß ein Gefäß voll Asche ebensoviel Wasser aufnehme, als wenn es leer sei. 2 Dieser Mangel, welcher vornehmlich die ältere Naturwissenschaft beschränkte, erklärt sich aus der Anwendung der Substanzialität als Denkmittel. 3 Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Forschung allein auf qualita- tive Bestimmung der Substanz, wie des Subjekts durch seine Prädikate, gerichtet. Es gab kein Mittel, die Empfindung in genügender Weise räumlich zu objektivieren und dadurch Intensitätsunterschiede quantitativ darzustellen. Hier eben war die Grenze des antiken Denkens erreicht und damit die Beschränkung des Naturbegriffs beschlossen. Aristoteles hat 1 S. Lorscheid, Aristoteles’ Einfluß auf die Entwickelung der Chemie. Münster 1872. S. 17. 2 Phys. IV, 6, p. 213 a. 21. 3 Vgl. S. 46. 7*

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/117>, abgerufen am 24.11.2024.