nicht Beobachtung und Erfahrung verachtet, aber ihm fehlte die Möglichkeit, das Empirische mathematisch zu fixieren.1
Die Begriffe der Materie, der Bewegung, der Elemente wurden unter Beibehaltung der Namen im 17. Jahrhundert vollständig umgeformt, indem das Denkmittel der sub- stanziellen Form durch das der mechanischen Kausalität ersetzt wurde. Dies war jedoch nur möglich durch Vermitte- lung eines Denkmittels, welches den Begriff der Veränderlich- keit mathematisch zu fassen gestattete, und das seinerseits erst an der neu entstehenden Wissenschaft zu Tage trat. Diese Wandlung des Denkens erschuf einen neuen Naturbegriff, welcher die korpuskulare Auffassung der Materie erforderte. In der Folge zeigte sich, daß dieser neue Begriff von der Natur einer außerordentlichen Erweiterung des Erfahrungskreises gleichkam. Beides, theoretischer und empirischer Fortschritt, geht so Hand in Hand und ist im Grunde der treibenden Ur- sachen dasselbe, daß die Frage, warum die moderne Natur- wissenschaft so spät entstanden sei, auf nichts andres heraus- kommt, als auf die Frage, warum das menschliche Denken seine verschiedenen Sphären erst nach und nach zu vervoll- kommnen und zu entwickeln vermag. Die Herrschaft der sub- stanzialen Formen und der Mangel der mechanischen Natur- wissenschaft sind der Ausdruck desselben Kulturzustandes;2 sobald die Entwickelung fortschritt, verwandelte sich auch der Naturbegriff und die Naturwissenschaft. Man würde den Wert der aristotelischen Physik unterschätzen, wollte man sich nicht gestehen, daß sie den naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalt des Mittelalters vollständig umspannte. Wie Aristoteles das unmittelbare sinnliche Erlebnis begrifflich faßte, so objekti- vierte er die Empfindung zur Natur, so war die Natur für die Wissenschaft jener Jahrhunderte, und nur wir vermögen jetzt zu erkennen, daß es eines andren Naturbegriffs bedarf, um der Erweiterung der Erfahrung gerecht zu werden.
Die Natur stellte sich unter dem Denkmittel der substan- ziellen Form als eine große Einheit dar, welche vom höchsten und ersten Beweger zum zweckvollen Kosmos geordnet war.
1 Vgl. S. 51.
2 Vgl. Dilthey, Einl. i. d. Geisteswissensch. S. 263.
Aristoteles und die moderne Naturwissenschaft.
nicht Beobachtung und Erfahrung verachtet, aber ihm fehlte die Möglichkeit, das Empirische mathematisch zu fixieren.1
Die Begriffe der Materie, der Bewegung, der Elemente wurden unter Beibehaltung der Namen im 17. Jahrhundert vollständig umgeformt, indem das Denkmittel der sub- stanziellen Form durch das der mechanischen Kausalität ersetzt wurde. Dies war jedoch nur möglich durch Vermitte- lung eines Denkmittels, welches den Begriff der Veränderlich- keit mathematisch zu fassen gestattete, und das seinerseits erst an der neu entstehenden Wissenschaft zu Tage trat. Diese Wandlung des Denkens erschuf einen neuen Naturbegriff, welcher die korpuskulare Auffassung der Materie erforderte. In der Folge zeigte sich, daß dieser neue Begriff von der Natur einer außerordentlichen Erweiterung des Erfahrungskreises gleichkam. Beides, theoretischer und empirischer Fortschritt, geht so Hand in Hand und ist im Grunde der treibenden Ur- sachen dasselbe, daß die Frage, warum die moderne Natur- wissenschaft so spät entstanden sei, auf nichts andres heraus- kommt, als auf die Frage, warum das menschliche Denken seine verschiedenen Sphären erst nach und nach zu vervoll- kommnen und zu entwickeln vermag. Die Herrschaft der sub- stanzialen Formen und der Mangel der mechanischen Natur- wissenschaft sind der Ausdruck desselben Kulturzustandes;2 sobald die Entwickelung fortschritt, verwandelte sich auch der Naturbegriff und die Naturwissenschaft. Man würde den Wert der aristotelischen Physik unterschätzen, wollte man sich nicht gestehen, daß sie den naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalt des Mittelalters vollständig umspannte. Wie Aristoteles das unmittelbare sinnliche Erlebnis begrifflich faßte, so objekti- vierte er die Empfindung zur Natur, so war die Natur für die Wissenschaft jener Jahrhunderte, und nur wir vermögen jetzt zu erkennen, daß es eines andren Naturbegriffs bedarf, um der Erweiterung der Erfahrung gerecht zu werden.
Die Natur stellte sich unter dem Denkmittel der substan- ziellen Form als eine große Einheit dar, welche vom höchsten und ersten Beweger zum zweckvollen Kosmos geordnet war.
1 Vgl. S. 51.
2 Vgl. Dilthey, Einl. i. d. Geisteswissensch. S. 263.
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Aristoteles und die moderne Naturwissenschaft.
nicht Beobachtung und Erfahrung verachtet, aber ihm fehlte
die Möglichkeit, das Empirische mathematisch zu fixieren. 1
Die Begriffe der Materie, der Bewegung, der Elemente
wurden unter Beibehaltung der Namen im 17. Jahrhundert
vollständig umgeformt, indem das Denkmittel der sub-
stanziellen Form durch das der mechanischen Kausalität
ersetzt wurde. Dies war jedoch nur möglich durch Vermitte-
lung eines Denkmittels, welches den Begriff der Veränderlich-
keit mathematisch zu fassen gestattete, und das seinerseits erst
an der neu entstehenden Wissenschaft zu Tage trat. Diese
Wandlung des Denkens erschuf einen neuen Naturbegriff,
welcher die korpuskulare Auffassung der Materie erforderte. In
der Folge zeigte sich, daß dieser neue Begriff von der Natur
einer außerordentlichen Erweiterung des Erfahrungskreises
gleichkam. Beides, theoretischer und empirischer Fortschritt,
geht so Hand in Hand und ist im Grunde der treibenden Ur-
sachen dasselbe, daß die Frage, warum die moderne Natur-
wissenschaft so spät entstanden sei, auf nichts andres heraus-
kommt, als auf die Frage, warum das menschliche Denken
seine verschiedenen Sphären erst nach und nach zu vervoll-
kommnen und zu entwickeln vermag. Die Herrschaft der sub-
stanzialen Formen und der Mangel der mechanischen Natur-
wissenschaft sind der Ausdruck desselben Kulturzustandes; 2
sobald die Entwickelung fortschritt, verwandelte sich auch der
Naturbegriff und die Naturwissenschaft. Man würde den Wert
der aristotelischen Physik unterschätzen, wollte man sich nicht
gestehen, daß sie den naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalt
des Mittelalters vollständig umspannte. Wie Aristoteles das
unmittelbare sinnliche Erlebnis begrifflich faßte, so objekti-
vierte er die Empfindung zur Natur, so war die Natur für
die Wissenschaft jener Jahrhunderte, und nur wir vermögen
jetzt zu erkennen, daß es eines andren Naturbegriffs bedarf,
um der Erweiterung der Erfahrung gerecht zu werden.
Die Natur stellte sich unter dem Denkmittel der substan-
ziellen Form als eine große Einheit dar, welche vom höchsten
und ersten Beweger zum zweckvollen Kosmos geordnet war.
1 Vgl. S. 51.
2 Vgl. Dilthey, Einl. i. d. Geisteswissensch. S. 263.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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