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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Gerade und krumm.
endlichkleinen wagte er sich nicht vor.1 Immerhin kann man
das Verdienst nicht hoch genug anschlagen, welches in dem
Zugeständnis liegt, das Archimedes der Anschauung machte,
indem er die Lage und Gestalt der Linie über ihre Größe
entscheiden ließ. Denn ohne eine solche Einsicht, daß im
Kontinuum des Raumes eine Beziehung besteht zwischen
der gesetzlichen Veränderung der Richtung und
der Größe einer Linie,
wäre es unmöglich gewesen, jene
Beziehung durch einen Begriff zu fixieren, wie es der Infinitesi-
malrechnung gelang. Deshalb beansprucht Archimedes einen
Platz unter denjenigen, welche das neue Denkmittel zur Be-
wältigung der kontinuierlichen Veränderung vorbereiten, ob-
wohl er selbst noch unter demjenigen der Substanzialität steht.

Es giebt vielleicht wenige Fälle, an denen so deutlich
wie bei der einfachen Aufgabe, eine krumme Linie durch eine
gerade zu messen, die realisierende Macht des Begriffs hervor-
tritt, an denen man so klar erkennen kann, daß nicht die
alltägliche sinnliche Erfahrung, sondern das methodische wissen-
schaftliche Denken darüber entscheidet, was Natur ist und als
Wirklichkeit die Schicksale von Jahrtausenden bestimmt. Nichts
scheint leichter als den Umfang eines Baumstammes zu messen,
indem man eine Schnur darum legt; aber von diesem trivialen
Experiment hängt für die Kulturentwickelung nichts ab, die
Empirie des Zimmermanns enthält keinen weltbewegenden
Faktor. Wenn dagegen der hellenische Geist die Sicherheit
dieser Messung festzustellen sucht, wenn er sich fragt, welcher
Begriff die Gewißheit verbürgt, daß Krummes eine Länge
besitze, wenn er in dem ganzen Inhalt des Bewußtseins kein
Mittel findet, welches die krumme und die gerade Linie -- nicht
durch die Unzuverlässigkeit der Sinne, sondern durch das
Ewigseiende eines mathematischen Gesetzes -- vergleichbar
macht, dann trennt sich ihm das Gerade und das Krumme als
etwas im innersten Grunde Unvereinbares, dann scheidet Ari-
stoteles
die geradlinige und die krummlinige Bewegung als

1 Es mag hierbei erwähnt werden, daß Archimedes nach der Richtung
des Unendlichgroßen durch seine Ausführungen über die Darstellbarkeit beliebig
großer Zahlen in seinem Psammites (Ed. Heiberg, II p. 243 ff.) dem Verständ-
nis der Relativität des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs vorgearbeitet hat.
Vgl. Cantor, a. a. O. S. 267 und S. Günther. Math. im Altertum. S. 20, 21.

Gerade und krumm.
endlichkleinen wagte er sich nicht vor.1 Immerhin kann man
das Verdienst nicht hoch genug anschlagen, welches in dem
Zugeständnis liegt, das Archimedes der Anschauung machte,
indem er die Lage und Gestalt der Linie über ihre Größe
entscheiden ließ. Denn ohne eine solche Einsicht, daß im
Kontinuum des Raumes eine Beziehung besteht zwischen
der gesetzlichen Veränderung der Richtung und
der Größe einer Linie,
wäre es unmöglich gewesen, jene
Beziehung durch einen Begriff zu fixieren, wie es der Infinitesi-
malrechnung gelang. Deshalb beansprucht Archimedes einen
Platz unter denjenigen, welche das neue Denkmittel zur Be-
wältigung der kontinuierlichen Veränderung vorbereiten, ob-
wohl er selbst noch unter demjenigen der Substanzialität steht.

Es giebt vielleicht wenige Fälle, an denen so deutlich
wie bei der einfachen Aufgabe, eine krumme Linie durch eine
gerade zu messen, die realisierende Macht des Begriffs hervor-
tritt, an denen man so klar erkennen kann, daß nicht die
alltägliche sinnliche Erfahrung, sondern das methodische wissen-
schaftliche Denken darüber entscheidet, was Natur ist und als
Wirklichkeit die Schicksale von Jahrtausenden bestimmt. Nichts
scheint leichter als den Umfang eines Baumstammes zu messen,
indem man eine Schnur darum legt; aber von diesem trivialen
Experiment hängt für die Kulturentwickelung nichts ab, die
Empirie des Zimmermanns enthält keinen weltbewegenden
Faktor. Wenn dagegen der hellenische Geist die Sicherheit
dieser Messung festzustellen sucht, wenn er sich fragt, welcher
Begriff die Gewißheit verbürgt, daß Krummes eine Länge
besitze, wenn er in dem ganzen Inhalt des Bewußtseins kein
Mittel findet, welches die krumme und die gerade Linie — nicht
durch die Unzuverlässigkeit der Sinne, sondern durch das
Ewigseiende eines mathematischen Gesetzes — vergleichbar
macht, dann trennt sich ihm das Gerade und das Krumme als
etwas im innersten Grunde Unvereinbares, dann scheidet Ari-
stoteles
die geradlinige und die krummlinige Bewegung als

1 Es mag hierbei erwähnt werden, daß Archimedes nach der Richtung
des Unendlichgroßen durch seine Ausführungen über die Darstellbarkeit beliebig
großer Zahlen in seinem Psammites (Ed. Heiberg, II p. 243 ff.) dem Verständ-
nis der Relativität des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs vorgearbeitet hat.
Vgl. Cantor, a. a. O. S. 267 und S. Günther. Math. im Altertum. S. 20, 21.
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[182/0200] Gerade und krumm. endlichkleinen wagte er sich nicht vor. 1 Immerhin kann man das Verdienst nicht hoch genug anschlagen, welches in dem Zugeständnis liegt, das Archimedes der Anschauung machte, indem er die Lage und Gestalt der Linie über ihre Größe entscheiden ließ. Denn ohne eine solche Einsicht, daß im Kontinuum des Raumes eine Beziehung besteht zwischen der gesetzlichen Veränderung der Richtung und der Größe einer Linie, wäre es unmöglich gewesen, jene Beziehung durch einen Begriff zu fixieren, wie es der Infinitesi- malrechnung gelang. Deshalb beansprucht Archimedes einen Platz unter denjenigen, welche das neue Denkmittel zur Be- wältigung der kontinuierlichen Veränderung vorbereiten, ob- wohl er selbst noch unter demjenigen der Substanzialität steht. Es giebt vielleicht wenige Fälle, an denen so deutlich wie bei der einfachen Aufgabe, eine krumme Linie durch eine gerade zu messen, die realisierende Macht des Begriffs hervor- tritt, an denen man so klar erkennen kann, daß nicht die alltägliche sinnliche Erfahrung, sondern das methodische wissen- schaftliche Denken darüber entscheidet, was Natur ist und als Wirklichkeit die Schicksale von Jahrtausenden bestimmt. Nichts scheint leichter als den Umfang eines Baumstammes zu messen, indem man eine Schnur darum legt; aber von diesem trivialen Experiment hängt für die Kulturentwickelung nichts ab, die Empirie des Zimmermanns enthält keinen weltbewegenden Faktor. Wenn dagegen der hellenische Geist die Sicherheit dieser Messung festzustellen sucht, wenn er sich fragt, welcher Begriff die Gewißheit verbürgt, daß Krummes eine Länge besitze, wenn er in dem ganzen Inhalt des Bewußtseins kein Mittel findet, welches die krumme und die gerade Linie — nicht durch die Unzuverlässigkeit der Sinne, sondern durch das Ewigseiende eines mathematischen Gesetzes — vergleichbar macht, dann trennt sich ihm das Gerade und das Krumme als etwas im innersten Grunde Unvereinbares, dann scheidet Ari- stoteles die geradlinige und die krummlinige Bewegung als 1 Es mag hierbei erwähnt werden, daß Archimedes nach der Richtung des Unendlichgroßen durch seine Ausführungen über die Darstellbarkeit beliebig großer Zahlen in seinem Psammites (Ed. Heiberg, II p. 243 ff.) dem Verständ- nis der Relativität des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs vorgearbeitet hat. Vgl. Cantor, a. a. O. S. 267 und S. Günther. Math. im Altertum. S. 20, 21.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/200>, abgerufen am 04.12.2024.