das, was Erde und Himmel charakteristisch sondert, und baut über der sublunaren Welt die Ewigkeit der coelestischen. Und hier ist eine Realität geschaffen, welche die Menschheit be- herrscht, so lange das Denken den vermittelnden Begriff nicht findet. Die Herrschaft der Kirche und die Hoffnung der Gläubigen hängt an dieser Unterscheidung, das Heil der Menschheit scheint zu wanken, wenn jene absolute Trennung bezweifelt wird, um Bruno flammt der Scheiterhaufen und Galilei fällt in Buße und Siechtum.
Was Archimedes in beschränkter Weise versuchte, galt es von einem allgemeineren Standpunkte aus zu erreichen -- zu verstehen, daß nicht bloß die Veränderung der Richtung, daß die Veränderung der Dinge überhaupt als eine Art der Größe darstellbar sei. Die Vorbereitung zur Lö- sung dieser Aufgabe lag zunächst in der Erweiterung des Zahlbegriffs. Das Kontinuum des Raumes, welches zugleich das der Materie war, mit jenem in eine Verbindung zu setzen, das war das Problem, wovon der Fortschritt der Wissenschaft abhing. Man hat versucht, den Raum ebenfalls diskonti- nuierlich zu fassen. Aber dies ist nicht der Weg, auf welchem die Übereinstimmung hergestellt werden konnte. Es wäre die Überspannung des Denkmittels der Substanzialität, wie sie sich auch im Monadenbegriffe zeigt, bei Bruno durch eine Substanzialisierung des Raumes, bei Leibniz durch die Substanzia- lisierung der Bewegung als Kraft. Vielmehr kommt es darauf an, die Kontinuität des Raumes dem Denken zu unterwerfen, so daß dieselbe faßlich und darstellbar wird. Der einzige Weg dazu ist der, die Diskontinuität der Zahl aufzuheben. Die Zahl muß flüssig gemacht werden, damit sie mit dem Raum und der Bewegung unter den gleichen Begriff des Werden- den gebracht werden könne. Diesen Sprung vom Diskreten zum Stetigen zu wagen, die Zahl beweglich zu machen, das Irrationale in die Reihe der veränderlichen Zahlen aufzunehmen, dazu war das griechische Denken nicht imstande. Die Schärfe der Dialektik hat die Mittel der Erfahrung zerrissen; die Ma- terie war untrennbar vom Raume, also stetig; die Zahl war unstetig, also mit jenen nicht vereinbar. Das ist die Grenze der griechischen Wissenschaft.
Es gab ein Volk, in welchem diese dialektische Trennung
Erweiterung des Zahlbegriffs.
das, was Erde und Himmel charakteristisch sondert, und baut über der sublunaren Welt die Ewigkeit der coelestischen. Und hier ist eine Realität geschaffen, welche die Menschheit be- herrscht, so lange das Denken den vermittelnden Begriff nicht findet. Die Herrschaft der Kirche und die Hoffnung der Gläubigen hängt an dieser Unterscheidung, das Heil der Menschheit scheint zu wanken, wenn jene absolute Trennung bezweifelt wird, um Bruno flammt der Scheiterhaufen und Galilei fällt in Buße und Siechtum.
Was Archimedes in beschränkter Weise versuchte, galt es von einem allgemeineren Standpunkte aus zu erreichen — zu verstehen, daß nicht bloß die Veränderung der Richtung, daß die Veränderung der Dinge überhaupt als eine Art der Größe darstellbar sei. Die Vorbereitung zur Lö- sung dieser Aufgabe lag zunächst in der Erweiterung des Zahlbegriffs. Das Kontinuum des Raumes, welches zugleich das der Materie war, mit jenem in eine Verbindung zu setzen, das war das Problem, wovon der Fortschritt der Wissenschaft abhing. Man hat versucht, den Raum ebenfalls diskonti- nuierlich zu fassen. Aber dies ist nicht der Weg, auf welchem die Übereinstimmung hergestellt werden konnte. Es wäre die Überspannung des Denkmittels der Substanzialität, wie sie sich auch im Monadenbegriffe zeigt, bei Bruno durch eine Substanzialisierung des Raumes, bei Leibniz durch die Substanzia- lisierung der Bewegung als Kraft. Vielmehr kommt es darauf an, die Kontinuität des Raumes dem Denken zu unterwerfen, so daß dieselbe faßlich und darstellbar wird. Der einzige Weg dazu ist der, die Diskontinuität der Zahl aufzuheben. Die Zahl muß flüssig gemacht werden, damit sie mit dem Raum und der Bewegung unter den gleichen Begriff des Werden- den gebracht werden könne. Diesen Sprung vom Diskreten zum Stetigen zu wagen, die Zahl beweglich zu machen, das Irrationale in die Reihe der veränderlichen Zahlen aufzunehmen, dazu war das griechische Denken nicht imstande. Die Schärfe der Dialektik hat die Mittel der Erfahrung zerrissen; die Ma- terie war untrennbar vom Raume, also stetig; die Zahl war unstetig, also mit jenen nicht vereinbar. Das ist die Grenze der griechischen Wissenschaft.
Es gab ein Volk, in welchem diese dialektische Trennung
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[183/0201]
Erweiterung des Zahlbegriffs.
das, was Erde und Himmel charakteristisch sondert, und baut
über der sublunaren Welt die Ewigkeit der coelestischen. Und
hier ist eine Realität geschaffen, welche die Menschheit be-
herrscht, so lange das Denken den vermittelnden Begriff nicht
findet. Die Herrschaft der Kirche und die Hoffnung der
Gläubigen hängt an dieser Unterscheidung, das Heil der
Menschheit scheint zu wanken, wenn jene absolute Trennung
bezweifelt wird, um Bruno flammt der Scheiterhaufen und
Galilei fällt in Buße und Siechtum.
Was Archimedes in beschränkter Weise versuchte, galt es
von einem allgemeineren Standpunkte aus zu erreichen — zu
verstehen, daß nicht bloß die Veränderung der Richtung,
daß die Veränderung der Dinge überhaupt als eine
Art der Größe darstellbar sei. Die Vorbereitung zur Lö-
sung dieser Aufgabe lag zunächst in der Erweiterung des
Zahlbegriffs. Das Kontinuum des Raumes, welches zugleich
das der Materie war, mit jenem in eine Verbindung zu setzen,
das war das Problem, wovon der Fortschritt der Wissenschaft
abhing. Man hat versucht, den Raum ebenfalls diskonti-
nuierlich zu fassen. Aber dies ist nicht der Weg, auf welchem
die Übereinstimmung hergestellt werden konnte. Es wäre die
Überspannung des Denkmittels der Substanzialität, wie sie
sich auch im Monadenbegriffe zeigt, bei Bruno durch eine
Substanzialisierung des Raumes, bei Leibniz durch die Substanzia-
lisierung der Bewegung als Kraft. Vielmehr kommt es darauf
an, die Kontinuität des Raumes dem Denken zu unterwerfen,
so daß dieselbe faßlich und darstellbar wird. Der einzige Weg
dazu ist der, die Diskontinuität der Zahl aufzuheben. Die
Zahl muß flüssig gemacht werden, damit sie mit dem Raum
und der Bewegung unter den gleichen Begriff des Werden-
den gebracht werden könne. Diesen Sprung vom Diskreten
zum Stetigen zu wagen, die Zahl beweglich zu machen, das
Irrationale in die Reihe der veränderlichen Zahlen aufzunehmen,
dazu war das griechische Denken nicht imstande. Die Schärfe
der Dialektik hat die Mittel der Erfahrung zerrissen; die Ma-
terie war untrennbar vom Raume, also stetig; die Zahl war
unstetig, also mit jenen nicht vereinbar. Das ist die Grenze
der griechischen Wissenschaft.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/201>, abgerufen am 04.12.2024.
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