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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Duns Scotus: Die Materie.
ist deshalb besonderer Erwähnung wert. Scotus geht, wie er
selbst sagt,1 auf die Annahme "Avicembrons" zurück, indem
er eine einzige Materie für alle Wesen, sowohl die geistigen
als körperlichen, lehrt und somit die Eigenart seiner philo-
sophischen Stellung Ibn Gabirol verdankt. Scotus will die
Materie nicht als reine Potenzialität auffassen, sondern er
schreibt derselben auch ein Sein ohne Form zu; es ist dies
der actus entitativus, das Sein als Materie, welches dieselbe
durch die Schöpfung hat. Besäße die Materie kein Sein an
sich, so könnte sie auch keine Verbindung mit der Form ein-
gehen und keine Wirkung erleiden; denn was nicht wirklich
ist, kann auch nicht passiv sein.2 Diese Materie nennt Scotus
materia primo prima.3 Diejenige Materie, welche Quantität be-
sitzt und bereits durch eine substanzielle Form bestimmt ist,
nennt er dagegen materia secundo prima; sie ist der Gegenstand
des Werdens und Vergehens, die Materie der organischen
Körper; die Form, welche ihr die Körperlichkeit verleiht, heißt
forma corporeitatis. Endlich unterscheidet er noch von den bei-
den genannten die materia tertio prima als das Substrat für die
mannigfaltige Gestaltung des Stoffes durch Kunst und äußere
Kräfte. Die Materie könnte -- im Gegensatz zur Lehre des
Thomas -- durch Gottes Allmacht auch ohne Form bestehen,
aber thatsächlich werden stets beide gleichzeitig durch die
Schöpfung verbunden. Diese Verbindung ist keine nur acci-
dentielle, sondern die Form verleiht der Materie den actus
primus
, das absolute Sein; beide bilden eine substanzielle Ein-
heit, eine einheitliche Substanz.4

In der Frage nach dem Verhalten der Elemente in der
Verbindung bestreitet Scotus sowohl die Ansicht des Averroes
von der Abschwächung der substanziellen Form, als die des
Avicenna von der Unveränderlichkeit der Bestandteile im Kom-
positum, weil die Wirkungsart der Mischung eine spezifisch
verschiedene von der Wirkungsart des Elementes sei.5 Auch

1 A. a. O. De rer. princ. qu. 8, § 24. Tom. III. p. 52.
2 Tom. III. De rer. princ. qu. 7.
3 A. a. O. qu. 8 § 20. T. III p. 51.
4 A. a. O. qu. 9 T. III p. 59.
5 Libri II Sententiarum. Dist. XI. Tom VI. p. 749 ff. Dico ergo ad
quaestionem tenendo oppositum utriusque, quod elementa non manent in mixto

Duns Scotus: Die Materie.
ist deshalb besonderer Erwähnung wert. Scotus geht, wie er
selbst sagt,1 auf die Annahme „Avicembrons‟ zurück, indem
er eine einzige Materie für alle Wesen, sowohl die geistigen
als körperlichen, lehrt und somit die Eigenart seiner philo-
sophischen Stellung Ibn Gabirol verdankt. Scotus will die
Materie nicht als reine Potenzialität auffassen, sondern er
schreibt derselben auch ein Sein ohne Form zu; es ist dies
der actus entitativus, das Sein als Materie, welches dieselbe
durch die Schöpfung hat. Besäße die Materie kein Sein an
sich, so könnte sie auch keine Verbindung mit der Form ein-
gehen und keine Wirkung erleiden; denn was nicht wirklich
ist, kann auch nicht passiv sein.2 Diese Materie nennt Scotus
materia primo prima.3 Diejenige Materie, welche Quantität be-
sitzt und bereits durch eine substanzielle Form bestimmt ist,
nennt er dagegen materia secundo prima; sie ist der Gegenstand
des Werdens und Vergehens, die Materie der organischen
Körper; die Form, welche ihr die Körperlichkeit verleiht, heißt
forma corporeitatis. Endlich unterscheidet er noch von den bei-
den genannten die materia tertio prima als das Substrat für die
mannigfaltige Gestaltung des Stoffes durch Kunst und äußere
Kräfte. Die Materie könnte — im Gegensatz zur Lehre des
Thomas — durch Gottes Allmacht auch ohne Form bestehen,
aber thatsächlich werden stets beide gleichzeitig durch die
Schöpfung verbunden. Diese Verbindung ist keine nur acci-
dentielle, sondern die Form verleiht der Materie den actus
primus
, das absolute Sein; beide bilden eine substanzielle Ein-
heit, eine einheitliche Substanz.4

In der Frage nach dem Verhalten der Elemente in der
Verbindung bestreitet Scotus sowohl die Ansicht des Averroes
von der Abschwächung der substanziellen Form, als die des
Avicenna von der Unveränderlichkeit der Bestandteile im Kom-
positum, weil die Wirkungsart der Mischung eine spezifisch
verschiedene von der Wirkungsart des Elementes sei.5 Auch

1 A. a. O. De rer. princ. qu. 8, § 24. Tom. III. p. 52.
2 Tom. III. De rer. princ. qu. 7.
3 A. a. O. qu. 8 § 20. T. III p. 51.
4 A. a. O. qu. 9 T. III p. 59.
5 Libri II Sententiarum. Dist. XI. Tom VI. p. 749 ff. Dico ergo ad
quaestionem tenendo oppositum utriusque, quod elementa non manent in mixto
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[249/0267] Duns Scotus: Die Materie. ist deshalb besonderer Erwähnung wert. Scotus geht, wie er selbst sagt, 1 auf die Annahme „Avicembrons‟ zurück, indem er eine einzige Materie für alle Wesen, sowohl die geistigen als körperlichen, lehrt und somit die Eigenart seiner philo- sophischen Stellung Ibn Gabirol verdankt. Scotus will die Materie nicht als reine Potenzialität auffassen, sondern er schreibt derselben auch ein Sein ohne Form zu; es ist dies der actus entitativus, das Sein als Materie, welches dieselbe durch die Schöpfung hat. Besäße die Materie kein Sein an sich, so könnte sie auch keine Verbindung mit der Form ein- gehen und keine Wirkung erleiden; denn was nicht wirklich ist, kann auch nicht passiv sein. 2 Diese Materie nennt Scotus materia primo prima. 3 Diejenige Materie, welche Quantität be- sitzt und bereits durch eine substanzielle Form bestimmt ist, nennt er dagegen materia secundo prima; sie ist der Gegenstand des Werdens und Vergehens, die Materie der organischen Körper; die Form, welche ihr die Körperlichkeit verleiht, heißt forma corporeitatis. Endlich unterscheidet er noch von den bei- den genannten die materia tertio prima als das Substrat für die mannigfaltige Gestaltung des Stoffes durch Kunst und äußere Kräfte. Die Materie könnte — im Gegensatz zur Lehre des Thomas — durch Gottes Allmacht auch ohne Form bestehen, aber thatsächlich werden stets beide gleichzeitig durch die Schöpfung verbunden. Diese Verbindung ist keine nur acci- dentielle, sondern die Form verleiht der Materie den actus primus, das absolute Sein; beide bilden eine substanzielle Ein- heit, eine einheitliche Substanz. 4 In der Frage nach dem Verhalten der Elemente in der Verbindung bestreitet Scotus sowohl die Ansicht des Averroes von der Abschwächung der substanziellen Form, als die des Avicenna von der Unveränderlichkeit der Bestandteile im Kom- positum, weil die Wirkungsart der Mischung eine spezifisch verschiedene von der Wirkungsart des Elementes sei. 5 Auch 1 A. a. O. De rer. princ. qu. 8, § 24. Tom. III. p. 52. 2 Tom. III. De rer. princ. qu. 7. 3 A. a. O. qu. 8 § 20. T. III p. 51. 4 A. a. O. qu. 9 T. III p. 59. 5 Libri II Sententiarum. Dist. XI. Tom VI. p. 749 ff. Dico ergo ad quaestionem tenendo oppositum utriusque, quod elementa non manent in mixto

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/267>, abgerufen am 27.09.2024.