Neunter Abschnitt. Occam und Nicolaus de Autricuria.
Wir haben eine Reihe von Momenten kennen gelernt, welche innerhalb der scholastischen Theorie des Körpers als Gärungsmittel wirken, auch während des Mittelalters und der Herrschaft des Aristoteles korpuskulartheoretische Vorstellungen in Bewegung zu erhalten. Arabische und jüdische Denker stärken die Bedeutung der Materie gegenüber der Form und bringen sie der naturalistischen Auffassung eines selbständigen, die Welt aus sich entfaltenden Stoffes näher; das Kontinuitäts- problem wird erwogen und die Erhaltung der Bestandteile in der Verbindung diskutiert; antike Erinnerungen an korpus- kulare Gestaltung der Materie sind vorhanden; die Chemie hat ihre eigenen substanziellen Elemente; die Medizin benutzt zum Teil korpuskulare Erklärungen. Aber alles dies bleibt undeut- lich und zerrissen; die Vorstellungen vermögen sich nicht zu verdichten zu einem Denkmittel, welches einen neuen Natur- begriff schafft. Denn dazu ist das Bedürfnis noch nicht vor- handen. Noch ist die Natur, wie sie das Bewußtsein des Mittelalters objektivierte, nicht erschüttert und aufgelöst durch die unwiderstehliche Macht neuer Erfahrungen. Noch lenken die Engel Gottes die Bewegung der Himmelssphären und be- stimmen dadurch nach dem Ratschlusse der ewigen Weisheit das Werden und Vergehen der Stoffe zum Heile des Menschen, des Mikrokosmus im Mittelpunkte der Welt. Noch herrschen Wesen psychischer Art, zweckbestimmende Formen, über die Veränderungen des Seienden. Und für die Existenz dieser Formen hat Thomas, der größte Kirchenlehrer, die Formel ge- funden: Als Universalien sind sie vor den Einzeldingen, in ihnen, und nach ihnen. Vor ihnen sind sie, weil Gott vor den Dingen sie intelligiert hat; in den Dingen sind sie, weil sie nicht ohne diese bestehen und ihre Realität nur an den Einzeldingen gegeben ist; nach den Dingen sind sie, weil sie das Wesenhafte sind, welches vom menschlichen Verstande
Rückblick.
Neunter Abschnitt. Occam und Nicolaus de Autricuria.
Wir haben eine Reihe von Momenten kennen gelernt, welche innerhalb der scholastischen Theorie des Körpers als Gärungsmittel wirken, auch während des Mittelalters und der Herrschaft des Aristoteles korpuskulartheoretische Vorstellungen in Bewegung zu erhalten. Arabische und jüdische Denker stärken die Bedeutung der Materie gegenüber der Form und bringen sie der naturalistischen Auffassung eines selbständigen, die Welt aus sich entfaltenden Stoffes näher; das Kontinuitäts- problem wird erwogen und die Erhaltung der Bestandteile in der Verbindung diskutiert; antike Erinnerungen an korpus- kulare Gestaltung der Materie sind vorhanden; die Chemie hat ihre eigenen substanziellen Elemente; die Medizin benutzt zum Teil korpuskulare Erklärungen. Aber alles dies bleibt undeut- lich und zerrissen; die Vorstellungen vermögen sich nicht zu verdichten zu einem Denkmittel, welches einen neuen Natur- begriff schafft. Denn dazu ist das Bedürfnis noch nicht vor- handen. Noch ist die Natur, wie sie das Bewußtsein des Mittelalters objektivierte, nicht erschüttert und aufgelöst durch die unwiderstehliche Macht neuer Erfahrungen. Noch lenken die Engel Gottes die Bewegung der Himmelssphären und be- stimmen dadurch nach dem Ratschlusse der ewigen Weisheit das Werden und Vergehen der Stoffe zum Heile des Menschen, des Mikrokosmus im Mittelpunkte der Welt. Noch herrschen Wesen psychischer Art, zweckbestimmende Formen, über die Veränderungen des Seienden. Und für die Existenz dieser Formen hat Thomas, der größte Kirchenlehrer, die Formel ge- funden: Als Universalien sind sie vor den Einzeldingen, in ihnen, und nach ihnen. Vor ihnen sind sie, weil Gott vor den Dingen sie intelligiert hat; in den Dingen sind sie, weil sie nicht ohne diese bestehen und ihre Realität nur an den Einzeldingen gegeben ist; nach den Dingen sind sie, weil sie das Wesenhafte sind, welches vom menschlichen Verstande
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Rückblick.
Neunter Abschnitt.
Occam und Nicolaus de Autricuria.
Wir haben eine Reihe von Momenten kennen gelernt,
welche innerhalb der scholastischen Theorie des Körpers als
Gärungsmittel wirken, auch während des Mittelalters und der
Herrschaft des Aristoteles korpuskulartheoretische Vorstellungen
in Bewegung zu erhalten. Arabische und jüdische Denker
stärken die Bedeutung der Materie gegenüber der Form und
bringen sie der naturalistischen Auffassung eines selbständigen,
die Welt aus sich entfaltenden Stoffes näher; das Kontinuitäts-
problem wird erwogen und die Erhaltung der Bestandteile in
der Verbindung diskutiert; antike Erinnerungen an korpus-
kulare Gestaltung der Materie sind vorhanden; die Chemie hat
ihre eigenen substanziellen Elemente; die Medizin benutzt zum
Teil korpuskulare Erklärungen. Aber alles dies bleibt undeut-
lich und zerrissen; die Vorstellungen vermögen sich nicht zu
verdichten zu einem Denkmittel, welches einen neuen Natur-
begriff schafft. Denn dazu ist das Bedürfnis noch nicht vor-
handen. Noch ist die Natur, wie sie das Bewußtsein des
Mittelalters objektivierte, nicht erschüttert und aufgelöst durch
die unwiderstehliche Macht neuer Erfahrungen. Noch lenken
die Engel Gottes die Bewegung der Himmelssphären und be-
stimmen dadurch nach dem Ratschlusse der ewigen Weisheit
das Werden und Vergehen der Stoffe zum Heile des Menschen,
des Mikrokosmus im Mittelpunkte der Welt. Noch herrschen
Wesen psychischer Art, zweckbestimmende Formen, über die
Veränderungen des Seienden. Und für die Existenz dieser
Formen hat Thomas, der größte Kirchenlehrer, die Formel ge-
funden: Als Universalien sind sie vor den Einzeldingen, in
ihnen, und nach ihnen. Vor ihnen sind sie, weil Gott vor
den Dingen sie intelligiert hat; in den Dingen sind sie, weil
sie nicht ohne diese bestehen und ihre Realität nur an den
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/273>, abgerufen am 24.11.2024.
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