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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Plotin gegen die Atomistik.
lischen Vorgänge unmöglich mache und eine Weltbildung aus
Atomen überhaupt nicht denkbar sei; auch würde, wenn es nur
den Stoß der Atome als Prinzip des Weltprozesses gäbe, keine
Ordnung der Welt, demnach auch keine bestimmte Bewegung
vorhanden sein und jede Vorausverkündigung aufhören.

In direkter Beziehung ist also die Erneuerung des Plato-
nismus der Atomistik nicht günstig, sie scheint vielmehr durch
Beförderung der poetisch-phantastischen Weltauffassung der
mit der Atomistik zusammenhängenden Lehre vom Natur-
mechanismus gerade entgegengesetzt. Dennoch ist aus dem
platonisch gefärbten Gedankenkreise eine wesentliche Förderung
der Probleme der neuen Physik hervorgegangen durch eine
eigentümliche Wendung des Begriffs der Entwickelung aus der
Einheit und durch die mit dem Platonismus verbundene Be-
tonung der Mathematik. Dadurch wurde der Starrheit der sub-
stanzialen Form zu Gunsten eines Prinzips der Veränderung
entgegengearbeitet.

2. Das Denkmittel der Variabilität.

Es ist der Begriff der Veränderung, welcher einer neuen
Bearbeitung bedarf. Das äußerliche Hinzutreten der Formen
zu der Materie hatte schon durch Ibn Roschd mehr den Charakter
einer inneren Entwickelung erlangt; doch fehlte es an einem
Mittel, diese Veränderlichkeit des Seienden begrifflich zu er-
fassen, der bloß empirischen Thatsache des Flusses der sinn-
lichen Erscheinung die rationale Legitimation zu verleihen.
Daß die Veränderung durch das Denkmittel der Substanzialität
nicht erkannt werden könne, war bereits durch die Eleaten
nachgewiesen, es zeigte sich ebenso in allen Systemen, welche
in der Substanzialisirung der Allgemeinbegriffe gipfelten.
Aristoteles hatte sich durch die Begriffe von Materie und
Form, Potenzialität und Aktualität darüber hinweggesetzt, da-
mit jedoch den Weg zu kausalmechanischen Erklärungen ver-
sperrt. Die Zustände der Dinge wechseln. Das ist ein sinn-
liches Erlebnis, welches unser Bewußtsein unmittelbar erfüllt.
Damit es sich zur Naturgesetzlichkeit erhebe, muß die Ver-
änderung begrifflich fixiert werden können.1 Wird aber

1 Vgl. 1. Buch, II, 3. S. 44 f., 50 f u. III, 1. S. 80 f.

Plotin gegen die Atomistik.
lischen Vorgänge unmöglich mache und eine Weltbildung aus
Atomen überhaupt nicht denkbar sei; auch würde, wenn es nur
den Stoß der Atome als Prinzip des Weltprozesses gäbe, keine
Ordnung der Welt, demnach auch keine bestimmte Bewegung
vorhanden sein und jede Vorausverkündigung aufhören.

In direkter Beziehung ist also die Erneuerung des Plato-
nismus der Atomistik nicht günstig, sie scheint vielmehr durch
Beförderung der poetisch-phantastischen Weltauffassung der
mit der Atomistik zusammenhängenden Lehre vom Natur-
mechanismus gerade entgegengesetzt. Dennoch ist aus dem
platonisch gefärbten Gedankenkreise eine wesentliche Förderung
der Probleme der neuen Physik hervorgegangen durch eine
eigentümliche Wendung des Begriffs der Entwickelung aus der
Einheit und durch die mit dem Platonismus verbundene Be-
tonung der Mathematik. Dadurch wurde der Starrheit der sub-
stanzialen Form zu Gunsten eines Prinzips der Veränderung
entgegengearbeitet.

2. Das Denkmittel der Variabilität.

Es ist der Begriff der Veränderung, welcher einer neuen
Bearbeitung bedarf. Das äußerliche Hinzutreten der Formen
zu der Materie hatte schon durch Ibn Roschd mehr den Charakter
einer inneren Entwickelung erlangt; doch fehlte es an einem
Mittel, diese Veränderlichkeit des Seienden begrifflich zu er-
fassen, der bloß empirischen Thatsache des Flusses der sinn-
lichen Erscheinung die rationale Legitimation zu verleihen.
Daß die Veränderung durch das Denkmittel der Substanzialität
nicht erkannt werden könne, war bereits durch die Eleaten
nachgewiesen, es zeigte sich ebenso in allen Systemen, welche
in der Substanzialisirung der Allgemeinbegriffe gipfelten.
Aristoteles hatte sich durch die Begriffe von Materie und
Form, Potenzialität und Aktualität darüber hinweggesetzt, da-
mit jedoch den Weg zu kausalmechanischen Erklärungen ver-
sperrt. Die Zustände der Dinge wechseln. Das ist ein sinn-
liches Erlebnis, welches unser Bewußtsein unmittelbar erfüllt.
Damit es sich zur Naturgesetzlichkeit erhebe, muß die Ver-
änderung begrifflich fixiert werden können.1 Wird aber

1 Vgl. 1. Buch, II, 3. S. 44 f., 50 f u. III, 1. S. 80 f.
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[269/0287] Plotin gegen die Atomistik. lischen Vorgänge unmöglich mache und eine Weltbildung aus Atomen überhaupt nicht denkbar sei; auch würde, wenn es nur den Stoß der Atome als Prinzip des Weltprozesses gäbe, keine Ordnung der Welt, demnach auch keine bestimmte Bewegung vorhanden sein und jede Vorausverkündigung aufhören. In direkter Beziehung ist also die Erneuerung des Plato- nismus der Atomistik nicht günstig, sie scheint vielmehr durch Beförderung der poetisch-phantastischen Weltauffassung der mit der Atomistik zusammenhängenden Lehre vom Natur- mechanismus gerade entgegengesetzt. Dennoch ist aus dem platonisch gefärbten Gedankenkreise eine wesentliche Förderung der Probleme der neuen Physik hervorgegangen durch eine eigentümliche Wendung des Begriffs der Entwickelung aus der Einheit und durch die mit dem Platonismus verbundene Be- tonung der Mathematik. Dadurch wurde der Starrheit der sub- stanzialen Form zu Gunsten eines Prinzips der Veränderung entgegengearbeitet. 2. Das Denkmittel der Variabilität. Es ist der Begriff der Veränderung, welcher einer neuen Bearbeitung bedarf. Das äußerliche Hinzutreten der Formen zu der Materie hatte schon durch Ibn Roschd mehr den Charakter einer inneren Entwickelung erlangt; doch fehlte es an einem Mittel, diese Veränderlichkeit des Seienden begrifflich zu er- fassen, der bloß empirischen Thatsache des Flusses der sinn- lichen Erscheinung die rationale Legitimation zu verleihen. Daß die Veränderung durch das Denkmittel der Substanzialität nicht erkannt werden könne, war bereits durch die Eleaten nachgewiesen, es zeigte sich ebenso in allen Systemen, welche in der Substanzialisirung der Allgemeinbegriffe gipfelten. Aristoteles hatte sich durch die Begriffe von Materie und Form, Potenzialität und Aktualität darüber hinweggesetzt, da- mit jedoch den Weg zu kausalmechanischen Erklärungen ver- sperrt. Die Zustände der Dinge wechseln. Das ist ein sinn- liches Erlebnis, welches unser Bewußtsein unmittelbar erfüllt. Damit es sich zur Naturgesetzlichkeit erhebe, muß die Ver- änderung begrifflich fixiert werden können. 1 Wird aber 1 Vgl. 1. Buch, II, 3. S. 44 f., 50 f u. III, 1. S. 80 f.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/287>, abgerufen am 24.11.2024.