gelangen, welche die Einzelgestaltung in jedem Falle hervor- rufen, dazu fehlt noch der Weg. Es fehlt das Mittel, kausale Gesetze im einzelnen aufzufinden; und obwohl die Idee der induktiven und empirischen Methode den Vertretern des Be- seelungsprinzipes vorschwebte und sie die Erfahrung als Er- kenntnismittel betonten, so konnten sie doch zu einem Erfolge nicht gelangen, weil auf die Erscheinungen des Lebens Mathe- matik und quantitative Vergleichung nicht ange- wendet werden konnte. Sie blieben daher stets auf mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen beschränkt und mußten die Gesetze der Natur schießlich durch eine eigene Intuition oder göttliche Eingebung zu gewinnen suchen; d. h. sie mußten sich in Mysticismus verlieren.
Erkenntnis der Natur kann nur errungen werden durch Erforschung der Quantitäten. Dies war eine Überzeugung, welche die wissenschaftlichen Reformatoren des 16. Jahrhun- derts erfüllte, eine Erbschaft des wieder auflebenden reineren platonischen Geistes. Was in dieser Hinsicht der Cusaner und vor allem der divinatorische Genius Leonardo da Vincis schon ausgesprochen, schien sich der Verwirklichung nähern zu können, als das genauere Vertrautwerden mit den Schriften der alten Mathematiker, namentlich des Archimedes, und eigene neue Entdeckungen der Mathematik einen überraschenden Aufschwung verliehen. Wir nennen nur die Namen Franciscus Maurolykus (1494--1577), Scipione dal Ferro, Ludovico Ferrari (+ 1565), Niccola Tartaglia (+ 1559), Cardano, Michael Stifel, John Napier (+ 1617), Thomas Harriot (1560--1621), Henry Briggs (+ 1630), sowie Simon Stevin und Guido Ubaldo del Monte. Diese Reihe beschließt durch seine glänzenden Ent- deckungen Kepler, der zugleich dem methodischen Werte der Mathematik als Erkenntnismittel den klarsten Ausdruck ver- lieh. Er spricht es wiederholt aus, daß Beobachtung und Er- fahrung nur dort zu Erfolgen führen können, wo die quantita- tiven Verhältnisse eine Rolle spielen; denn nichts erkennt der Mensch richtiger als die Größe selbst.1 Mit vollem Bewußt- sein hebt er den Phantasmen eines Fludd gegenüber den
1Epistola de Harmonia. Op. V. p. 28. Mundus participat quantitate, et mens hominis (res supramundana in mundo) nihil rectius intelligit, quam ipsas quantitates, quibus percipiendis factus videri potest.
Quantitäten. Mathematiker. Kepler.
gelangen, welche die Einzelgestaltung in jedem Falle hervor- rufen, dazu fehlt noch der Weg. Es fehlt das Mittel, kausale Gesetze im einzelnen aufzufinden; und obwohl die Idee der induktiven und empirischen Methode den Vertretern des Be- seelungsprinzipes vorschwebte und sie die Erfahrung als Er- kenntnismittel betonten, so konnten sie doch zu einem Erfolge nicht gelangen, weil auf die Erscheinungen des Lebens Mathe- matik und quantitative Vergleichung nicht ange- wendet werden konnte. Sie blieben daher stets auf mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen beschränkt und mußten die Gesetze der Natur schießlich durch eine eigene Intuition oder göttliche Eingebung zu gewinnen suchen; d. h. sie mußten sich in Mysticismus verlieren.
Erkenntnis der Natur kann nur errungen werden durch Erforschung der Quantitäten. Dies war eine Überzeugung, welche die wissenschaftlichen Reformatoren des 16. Jahrhun- derts erfüllte, eine Erbschaft des wieder auflebenden reineren platonischen Geistes. Was in dieser Hinsicht der Cusaner und vor allem der divinatorische Genius Leonardo da Vincis schon ausgesprochen, schien sich der Verwirklichung nähern zu können, als das genauere Vertrautwerden mit den Schriften der alten Mathematiker, namentlich des Archimedes, und eigene neue Entdeckungen der Mathematik einen überraschenden Aufschwung verliehen. Wir nennen nur die Namen Franciscus Maurolykus (1494—1577), Scipione dal Ferro, Ludovico Ferrari († 1565), Niccola Tartaglia († 1559), Cardano, Michael Stifel, John Napier († 1617), Thomas Harriot (1560—1621), Henry Briggs († 1630), sowie Simon Stevin und Guido Ubaldo del Monte. Diese Reihe beschließt durch seine glänzenden Ent- deckungen Kepler, der zugleich dem methodischen Werte der Mathematik als Erkenntnismittel den klarsten Ausdruck ver- lieh. Er spricht es wiederholt aus, daß Beobachtung und Er- fahrung nur dort zu Erfolgen führen können, wo die quantita- tiven Verhältnisse eine Rolle spielen; denn nichts erkennt der Mensch richtiger als die Größe selbst.1 Mit vollem Bewußt- sein hebt er den Phantasmen eines Fludd gegenüber den
1Epistola de Harmonia. Op. V. p. 28. Mundus participat quantitate, et mens hominis (res supramundana in mundo) nihil rectius intelligit, quam ipsas quantitates, quibus percipiendis factus videri potest.
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Quantitäten. Mathematiker. Kepler.
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induktiven und empirischen Methode den Vertretern des Be-
seelungsprinzipes vorschwebte und sie die Erfahrung als Er-
kenntnismittel betonten, so konnten sie doch zu einem Erfolge
nicht gelangen, weil auf die Erscheinungen des Lebens Mathe-
matik und quantitative Vergleichung nicht ange-
wendet werden konnte. Sie blieben daher stets auf mehr oder
minder wahrscheinliche Vermutungen beschränkt und mußten
die Gesetze der Natur schießlich durch eine eigene Intuition
oder göttliche Eingebung zu gewinnen suchen; d. h. sie
mußten sich in Mysticismus verlieren.
Erkenntnis der Natur kann nur errungen werden durch
Erforschung der Quantitäten. Dies war eine Überzeugung,
welche die wissenschaftlichen Reformatoren des 16. Jahrhun-
derts erfüllte, eine Erbschaft des wieder auflebenden reineren
platonischen Geistes. Was in dieser Hinsicht der Cusaner und
vor allem der divinatorische Genius Leonardo da Vincis schon
ausgesprochen, schien sich der Verwirklichung nähern zu
können, als das genauere Vertrautwerden mit den Schriften
der alten Mathematiker, namentlich des Archimedes, und eigene
neue Entdeckungen der Mathematik einen überraschenden
Aufschwung verliehen. Wir nennen nur die Namen Franciscus
Maurolykus (1494—1577), Scipione dal Ferro, Ludovico Ferrari
(† 1565), Niccola Tartaglia († 1559), Cardano, Michael Stifel,
John Napier († 1617), Thomas Harriot (1560—1621), Henry
Briggs († 1630), sowie Simon Stevin und Guido Ubaldo del
Monte. Diese Reihe beschließt durch seine glänzenden Ent-
deckungen Kepler, der zugleich dem methodischen Werte der
Mathematik als Erkenntnismittel den klarsten Ausdruck ver-
lieh. Er spricht es wiederholt aus, daß Beobachtung und Er-
fahrung nur dort zu Erfolgen führen können, wo die quantita-
tiven Verhältnisse eine Rolle spielen; denn nichts erkennt der
Mensch richtiger als die Größe selbst. 1 Mit vollem Bewußt-
sein hebt er den Phantasmen eines Fludd gegenüber den
1 Epistola de Harmonia. Op. V. p. 28. Mundus participat quantitate, et
mens hominis (res supramundana in mundo) nihil rectius intelligit, quam ipsas
quantitates, quibus percipiendis factus videri potest.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/372>, abgerufen am 14.06.2024.
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