Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Erigena: Kategorien und Körper.
er noch in Kategorien des Zustandes und der Bewegung trennen
will,1 wird die Bedeutung der einzelnen Kategorien behandelt,
und hierbei kommt es zur Erörterung einer Theorie der Materie.
Es fragt sich: Was ist der sinnliche Körper? Der Rationalis-
mus Erigenas muß die Frage so stellen: Welche allgemeinen
Begriffe müssen zusammentreten, um die Erscheinung des sinn-
lichen Körpers zu erzeugen? Welche Kategorien sind am Be-
griff des Körpers beteiligt?

Der Körper ist eine Zusammensetzung der vier Elemente
von bestimmten Qualitäten, unter einer besonderen Art zusam-
mengefaßt, und besteht aus Stoff und Form. Wasser, Luft
und Feuer drehen sich in beständiger Bewegung um die Erde
als ihren Mittelpunkt; wie man dies an den sinnenfälligen Kör-
pern bemerkt, so bringen auch die Elemente als allgemeine
Körper in wechselseitiger Berührung miteinander die beson-
deren Körper der einzelnen Dinge zustande, welche wiederum
aus ihrer Besonderheit ins Allgemeine zurückkehren. Es sind
jedoch nicht Substanzen, sondern nur Accidentien, welche
durch ihr Zusammentreten die Körper bilden.2 Denn wenn
ihrem Stoffe eine einfache, unveränderliche Wesenheit inne-
wohnte, so würde er durch keinen Vorgang aufgelöst werden
können; da er sich jedoch wirklich auflöst, so steckt nichts
Unauflösliches dahinter. Allerdings bleiben die Accidentien
selbst, ebenso wie die Einzelarten und Atome (s. o.) immer und
unzerstörlich, der Körper aber besteht nur in ihrer Vereinigung,
so lange diese dauert. Dies gilt vom sinnlichen Körper, wozu
indes die reinen Elemente nicht zu rechnen sind, welche ihrer
unsagbaren Feinheit und Reinheit wegen jeden sterblichen
Sinn übersteigen. Der Körper hat keinen essentiellen Bestand
als Körper, sondern kann ganz und gar in Unkörperliches auf-
gelöst werden; er besteht lediglich aus Unkörperlichem.3 Alles,
was jedem Körper zukommt, wie Wesenheit, Figur, Festigkeit,

1 De divis. nat. I, 16. p. 12. Des Zustandes: # (essentia, Wesenheit,
auch substantia), # (quantitas, Größe), # (situs, Lage), # (locus,
Ort); der Bewegung: # (qualitas, Eigenschaft), # (ad aliquid, Bezug),
# (habitus, Verhältnis), # (tempus, Zeit), # (agere, thun), #
(pati, leiden).
2 I c. 31, 32. p. 19.
3 I, 60. p. 33.

Erigena: Kategorien und Körper.
er noch in Kategorien des Zustandes und der Bewegung trennen
will,1 wird die Bedeutung der einzelnen Kategorien behandelt,
und hierbei kommt es zur Erörterung einer Theorie der Materie.
Es fragt sich: Was ist der sinnliche Körper? Der Rationalis-
mus Erigenas muß die Frage so stellen: Welche allgemeinen
Begriffe müssen zusammentreten, um die Erscheinung des sinn-
lichen Körpers zu erzeugen? Welche Kategorien sind am Be-
griff des Körpers beteiligt?

Der Körper ist eine Zusammensetzung der vier Elemente
von bestimmten Qualitäten, unter einer besonderen Art zusam-
mengefaßt, und besteht aus Stoff und Form. Wasser, Luft
und Feuer drehen sich in beständiger Bewegung um die Erde
als ihren Mittelpunkt; wie man dies an den sinnenfälligen Kör-
pern bemerkt, so bringen auch die Elemente als allgemeine
Körper in wechselseitiger Berührung miteinander die beson-
deren Körper der einzelnen Dinge zustande, welche wiederum
aus ihrer Besonderheit ins Allgemeine zurückkehren. Es sind
jedoch nicht Substanzen, sondern nur Accidentien, welche
durch ihr Zusammentreten die Körper bilden.2 Denn wenn
ihrem Stoffe eine einfache, unveränderliche Wesenheit inne-
wohnte, so würde er durch keinen Vorgang aufgelöst werden
können; da er sich jedoch wirklich auflöst, so steckt nichts
Unauflösliches dahinter. Allerdings bleiben die Accidentien
selbst, ebenso wie die Einzelarten und Atome (s. o.) immer und
unzerstörlich, der Körper aber besteht nur in ihrer Vereinigung,
so lange diese dauert. Dies gilt vom sinnlichen Körper, wozu
indes die reinen Elemente nicht zu rechnen sind, welche ihrer
unsagbaren Feinheit und Reinheit wegen jeden sterblichen
Sinn übersteigen. Der Körper hat keinen essentiellen Bestand
als Körper, sondern kann ganz und gar in Unkörperliches auf-
gelöst werden; er besteht lediglich aus Unkörperlichem.3 Alles,
was jedem Körper zukommt, wie Wesenheit, Figur, Festigkeit,

1 De divis. nat. I, 16. p. 12. Des Zustandes: # (essentia, Wesenheit,
auch substantia), # (quantitas, Größe), # (situs, Lage), # (locus,
Ort); der Bewegung: # (qualitas, Eigenschaft), # (ad aliquid, Bezug),
# (habitus, Verhältnis), # (tempus, Zeit), # (agere, thun), #
(pati, leiden).
2 I c. 31, 32. p. 19.
3 I, 60. p. 33.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0057" n="39"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Erigena</hi>: Kategorien und Körper.</fw><lb/>
er noch in Kategorien des Zustandes und der Bewegung trennen<lb/>
will,<note place="foot" n="1"><hi rendition="#i">De divis. nat.</hi> I, 16. p. 12. Des Zustandes: # (essentia, Wesenheit,<lb/>
auch substantia), # (quantitas, Größe), # (situs, Lage), # (locus,<lb/>
Ort); der Bewegung: # (qualitas, Eigenschaft), # (ad aliquid, Bezug),<lb/>
# (habitus, Verhältnis), # (tempus, Zeit), # (agere, thun), #<lb/>
(pati, leiden).</note> wird die Bedeutung der einzelnen Kategorien behandelt,<lb/>
und hierbei kommt es zur Erörterung einer Theorie der Materie.<lb/>
Es fragt sich: Was ist der sinnliche Körper? Der Rationalis-<lb/>
mus <hi rendition="#k">Erigenas</hi> muß die Frage so stellen: Welche allgemeinen<lb/>
Begriffe müssen zusammentreten, um die Erscheinung des sinn-<lb/>
lichen Körpers zu erzeugen? Welche Kategorien sind am Be-<lb/>
griff des Körpers beteiligt?</p><lb/>
            <p>Der Körper ist eine Zusammensetzung der vier Elemente<lb/>
von bestimmten Qualitäten, unter einer besonderen Art zusam-<lb/>
mengefaßt, und besteht aus Stoff und Form. Wasser, Luft<lb/>
und Feuer drehen sich in beständiger Bewegung um die Erde<lb/>
als ihren Mittelpunkt; wie man dies an den sinnenfälligen Kör-<lb/>
pern bemerkt, so bringen auch die Elemente als allgemeine<lb/>
Körper in wechselseitiger Berührung miteinander die beson-<lb/>
deren Körper der einzelnen Dinge zustande, welche wiederum<lb/>
aus ihrer Besonderheit ins Allgemeine zurückkehren. Es sind<lb/>
jedoch nicht Substanzen, sondern nur Accidentien, welche<lb/>
durch ihr Zusammentreten die Körper bilden.<note place="foot" n="2">I c. 31, 32. p. 19.</note> Denn wenn<lb/>
ihrem Stoffe eine einfache, unveränderliche Wesenheit inne-<lb/>
wohnte, so würde er durch keinen Vorgang aufgelöst werden<lb/>
können; da er sich jedoch wirklich auflöst, so steckt nichts<lb/>
Unauflösliches dahinter. Allerdings bleiben die Accidentien<lb/>
selbst, ebenso wie die Einzelarten und Atome (s. o.) immer und<lb/>
unzerstörlich, der Körper aber besteht nur in ihrer Vereinigung,<lb/>
so lange diese dauert. Dies gilt vom sinnlichen Körper, wozu<lb/>
indes die reinen Elemente nicht zu rechnen sind, welche ihrer<lb/>
unsagbaren Feinheit und Reinheit wegen jeden sterblichen<lb/>
Sinn übersteigen. Der Körper hat keinen essentiellen Bestand<lb/>
als Körper, sondern kann ganz und gar in Unkörperliches auf-<lb/>
gelöst werden; er besteht lediglich aus Unkörperlichem.<note place="foot" n="3">I, 60. p. 33.</note> Alles,<lb/>
was jedem Körper zukommt, wie Wesenheit, Figur, Festigkeit,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0057] Erigena: Kategorien und Körper. er noch in Kategorien des Zustandes und der Bewegung trennen will, 1 wird die Bedeutung der einzelnen Kategorien behandelt, und hierbei kommt es zur Erörterung einer Theorie der Materie. Es fragt sich: Was ist der sinnliche Körper? Der Rationalis- mus Erigenas muß die Frage so stellen: Welche allgemeinen Begriffe müssen zusammentreten, um die Erscheinung des sinn- lichen Körpers zu erzeugen? Welche Kategorien sind am Be- griff des Körpers beteiligt? Der Körper ist eine Zusammensetzung der vier Elemente von bestimmten Qualitäten, unter einer besonderen Art zusam- mengefaßt, und besteht aus Stoff und Form. Wasser, Luft und Feuer drehen sich in beständiger Bewegung um die Erde als ihren Mittelpunkt; wie man dies an den sinnenfälligen Kör- pern bemerkt, so bringen auch die Elemente als allgemeine Körper in wechselseitiger Berührung miteinander die beson- deren Körper der einzelnen Dinge zustande, welche wiederum aus ihrer Besonderheit ins Allgemeine zurückkehren. Es sind jedoch nicht Substanzen, sondern nur Accidentien, welche durch ihr Zusammentreten die Körper bilden. 2 Denn wenn ihrem Stoffe eine einfache, unveränderliche Wesenheit inne- wohnte, so würde er durch keinen Vorgang aufgelöst werden können; da er sich jedoch wirklich auflöst, so steckt nichts Unauflösliches dahinter. Allerdings bleiben die Accidentien selbst, ebenso wie die Einzelarten und Atome (s. o.) immer und unzerstörlich, der Körper aber besteht nur in ihrer Vereinigung, so lange diese dauert. Dies gilt vom sinnlichen Körper, wozu indes die reinen Elemente nicht zu rechnen sind, welche ihrer unsagbaren Feinheit und Reinheit wegen jeden sterblichen Sinn übersteigen. Der Körper hat keinen essentiellen Bestand als Körper, sondern kann ganz und gar in Unkörperliches auf- gelöst werden; er besteht lediglich aus Unkörperlichem. 3 Alles, was jedem Körper zukommt, wie Wesenheit, Figur, Festigkeit, 1 De divis. nat. I, 16. p. 12. Des Zustandes: # (essentia, Wesenheit, auch substantia), # (quantitas, Größe), # (situs, Lage), # (locus, Ort); der Bewegung: # (qualitas, Eigenschaft), # (ad aliquid, Bezug), # (habitus, Verhältnis), # (tempus, Zeit), # (agere, thun), # (pati, leiden). 2 I c. 31, 32. p. 19. 3 I, 60. p. 33.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/57
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/57>, abgerufen am 17.05.2024.