Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Erigena: Realismus der Begriffe.
herab, so daß aus Gott, der obersten Einheit, erst die allge-
meinste Gattung, die Wesenheit, dann nach und nach immer
engere Gattungen, schließlich die Arten, Individuen und Atome
hervorgehen. Unter "Atomen" sind dabei nicht etwa Körper,
sondern nur die "einzelsten", nicht weiter teilbaren Arten,
Einzelwesen zu verstehen.1 Die allgemeinsten Begriffe werden
ebenso wie die speziellsten, welche aus ihnen durch Hinzutreten
immer neuer Merkmale sich bilden, als real existierende Wesen
gedacht, wie in der traditionellen Auffassung die platonischen
Ideen; sie existieren als Entfaltungen Gottes. Alle Begriffe
werden hypostasiert, und zwar so, daß in jedem Individuum
auch die allgemeineren Begriffe, welche es bestimmen, die
Gattungen, denen es zugehört, wesentlich subsistieren. Dadurch
können sie an der Wesenheit, der allgemeinsten Gattung, teil-
haben. Diese Lehre ist also rationalistischer Idealismus,
denn es existiert nichts, als der Gedanke, insofern er reiner
Begriff ist; und sie ist zugleich extremer Realismus im spä-
teren scholastischen Sinne, denn die Einzeldinge bestehen nur,
insofern ihre allgemeineren Begriffe vor ihnen existieren.

In der "Einteilung der Natur" bildet die sinnliche Welt
diejenige Art der Natur, welche geschaffen wird, aber selbst
nicht schafft. Sie hat keine bleibenden Wirkungen und ist
vergänglich, insofern sie Gegenstand der sinnlichen Wahr-
nehmung ist. Die Gattungen, Arten und Atome (Individuen)
dagegen, deren Zusammentreten die Körper bedingen, haben
als intelligible Wesen ewigen Bestand; alles Unkörperliche ist
unvergänglich in der ewigen Wahrheit Gottes.

Erigena untersucht, welche Kategorien von Gott ausgesagt
werden können. Bei der Besprechung der Kategorien, welche

1 I, 26. I, 34. In dem Kommentar des Erigena zu Marcianus Capella
heißt es: "Genus est multarum formarum substantialis unitas. Secundum
quosdam sic definitur genus. Sursum est generalissimum genus, ultra quod
nullus intellectus potest ascendere, quod a Graecis dicitur #, nobis essentia.
Est enim quaedam essentia, quae comprehendit omnem naturam, cujus partici-
patione consistit omne quod est, et ideo dicitur generalissimum genus. Descen-
dit autem per divisionem, per genera, per species, usque ad specilissimam speciem,
quae a Graecis atomos dicitur, hoc est individuum, vel insecabile, ut unus
homo,
vel unus bos." (Notices et Extraits des Man. A. XX, part. II, p.
17.) Nach Haureau, Hist. de la philos. scolast. I. p. 172.

Erigena: Realismus der Begriffe.
herab, so daß aus Gott, der obersten Einheit, erst die allge-
meinste Gattung, die Wesenheit, dann nach und nach immer
engere Gattungen, schließlich die Arten, Individuen und Atome
hervorgehen. Unter „Atomen‟ sind dabei nicht etwa Körper,
sondern nur die „einzelsten‟, nicht weiter teilbaren Arten,
Einzelwesen zu verstehen.1 Die allgemeinsten Begriffe werden
ebenso wie die speziellsten, welche aus ihnen durch Hinzutreten
immer neuer Merkmale sich bilden, als real existierende Wesen
gedacht, wie in der traditionellen Auffassung die platonischen
Ideen; sie existieren als Entfaltungen Gottes. Alle Begriffe
werden hypostasiert, und zwar so, daß in jedem Individuum
auch die allgemeineren Begriffe, welche es bestimmen, die
Gattungen, denen es zugehört, wesentlich subsistieren. Dadurch
können sie an der Wesenheit, der allgemeinsten Gattung, teil-
haben. Diese Lehre ist also rationalistischer Idealismus,
denn es existiert nichts, als der Gedanke, insofern er reiner
Begriff ist; und sie ist zugleich extremer Realismus im spä-
teren scholastischen Sinne, denn die Einzeldinge bestehen nur,
insofern ihre allgemeineren Begriffe vor ihnen existieren.

In der „Einteilung der Natur‟ bildet die sinnliche Welt
diejenige Art der Natur, welche geschaffen wird, aber selbst
nicht schafft. Sie hat keine bleibenden Wirkungen und ist
vergänglich, insofern sie Gegenstand der sinnlichen Wahr-
nehmung ist. Die Gattungen, Arten und Atome (Individuen)
dagegen, deren Zusammentreten die Körper bedingen, haben
als intelligible Wesen ewigen Bestand; alles Unkörperliche ist
unvergänglich in der ewigen Wahrheit Gottes.

Erigena untersucht, welche Kategorien von Gott ausgesagt
werden können. Bei der Besprechung der Kategorien, welche

1 I, 26. I, 34. In dem Kommentar des Erigena zu Marcianus Capella
heißt es: „Genus est multarum formarum substantialis unitas. Secundum
quosdam sic definitur genus. Sursum est generalissimum genus, ultra quod
nullus intellectus potest ascendere, quod a Graecis dicitur #, nobis essentia.
Est enim quaedam essentia, quae comprehendit omnem naturam, cujus partici-
patione consistit omne quod est, et ideo dicitur generalissimum genus. Descen-
dit autem per divisionem, per genera, per species, usque ad specilissimam speciem,
quae a Graecis atomos dicitur, hoc est individuum, vel insecabile, ut unus
homo,
vel unus bos.‟ (Notices et Extraits des Man. A. XX, part. II, p.
17.) Nach Hauréau, Hist. de la philos. scolast. I. p. 172.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0056" n="38"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Erigena</hi>: Realismus der Begriffe.</fw><lb/>
herab, so daß aus Gott, der obersten Einheit, erst die allge-<lb/>
meinste Gattung, die Wesenheit, dann nach und nach immer<lb/>
engere Gattungen, schließlich die Arten, Individuen und Atome<lb/>
hervorgehen. Unter &#x201E;Atomen&#x201F; sind dabei nicht etwa Körper,<lb/>
sondern nur die &#x201E;einzelsten&#x201F;, nicht weiter teilbaren Arten,<lb/>
Einzelwesen zu verstehen.<note place="foot" n="1">I, 26. I, 34. In dem Kommentar des <hi rendition="#k">Erigena zu Marcianus Capella</hi><lb/>
heißt es: &#x201E;Genus est multarum formarum substantialis unitas. Secundum<lb/>
quosdam sic definitur genus. Sursum est generalissimum genus, ultra quod<lb/>
nullus intellectus potest ascendere, quod a Graecis dicitur #, nobis essentia.<lb/>
Est enim quaedam essentia, quae comprehendit omnem naturam, cujus partici-<lb/>
patione consistit omne quod est, et ideo dicitur generalissimum genus. Descen-<lb/>
dit autem per divisionem, per genera, per species, usque ad specilissimam speciem,<lb/>
quae a Graecis <hi rendition="#g">atomos</hi> dicitur, hoc est individuum, vel insecabile, ut <hi rendition="#g">unus<lb/>
homo,</hi> vel <hi rendition="#g">unus bos</hi>.&#x201F; (<hi rendition="#i">Notices et Extraits des Man.</hi> A. XX, part. II, p.<lb/>
17.) Nach <hi rendition="#k">Hauréau</hi>, <hi rendition="#i">Hist. de la philos. scolast.</hi> I. p. 172.</note> Die allgemeinsten Begriffe werden<lb/>
ebenso wie die speziellsten, welche aus ihnen durch Hinzutreten<lb/>
immer neuer Merkmale sich bilden, als real existierende Wesen<lb/>
gedacht, wie in der traditionellen Auffassung die platonischen<lb/>
Ideen; sie existieren als Entfaltungen Gottes. Alle Begriffe<lb/>
werden hypostasiert, und zwar so, daß in jedem Individuum<lb/>
auch die allgemeineren Begriffe, welche es bestimmen, die<lb/>
Gattungen, denen es zugehört, wesentlich subsistieren. Dadurch<lb/>
können sie an der Wesenheit, der allgemeinsten Gattung, teil-<lb/>
haben. Diese Lehre ist also rationalistischer <hi rendition="#g">Idealismus,</hi><lb/>
denn es existiert nichts, als der Gedanke, insofern er reiner<lb/>
Begriff ist; und sie ist zugleich extremer <hi rendition="#g">Realismus</hi> im spä-<lb/>
teren scholastischen Sinne, denn die Einzeldinge bestehen nur,<lb/>
insofern ihre allgemeineren Begriffe vor ihnen existieren.</p><lb/>
            <p>In der &#x201E;Einteilung der Natur&#x201F; bildet die sinnliche Welt<lb/>
diejenige Art der Natur, welche geschaffen wird, aber selbst<lb/>
nicht schafft. Sie hat keine bleibenden Wirkungen und ist<lb/>
vergänglich, insofern sie Gegenstand der sinnlichen Wahr-<lb/>
nehmung ist. Die Gattungen, Arten und Atome (Individuen)<lb/>
dagegen, deren Zusammentreten die Körper bedingen, haben<lb/>
als intelligible Wesen ewigen Bestand; alles Unkörperliche ist<lb/>
unvergänglich in der ewigen Wahrheit Gottes.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#k">Erigena</hi> untersucht, welche Kategorien von Gott ausgesagt<lb/>
werden können. Bei der Besprechung der Kategorien, welche<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0056] Erigena: Realismus der Begriffe. herab, so daß aus Gott, der obersten Einheit, erst die allge- meinste Gattung, die Wesenheit, dann nach und nach immer engere Gattungen, schließlich die Arten, Individuen und Atome hervorgehen. Unter „Atomen‟ sind dabei nicht etwa Körper, sondern nur die „einzelsten‟, nicht weiter teilbaren Arten, Einzelwesen zu verstehen. 1 Die allgemeinsten Begriffe werden ebenso wie die speziellsten, welche aus ihnen durch Hinzutreten immer neuer Merkmale sich bilden, als real existierende Wesen gedacht, wie in der traditionellen Auffassung die platonischen Ideen; sie existieren als Entfaltungen Gottes. Alle Begriffe werden hypostasiert, und zwar so, daß in jedem Individuum auch die allgemeineren Begriffe, welche es bestimmen, die Gattungen, denen es zugehört, wesentlich subsistieren. Dadurch können sie an der Wesenheit, der allgemeinsten Gattung, teil- haben. Diese Lehre ist also rationalistischer Idealismus, denn es existiert nichts, als der Gedanke, insofern er reiner Begriff ist; und sie ist zugleich extremer Realismus im spä- teren scholastischen Sinne, denn die Einzeldinge bestehen nur, insofern ihre allgemeineren Begriffe vor ihnen existieren. In der „Einteilung der Natur‟ bildet die sinnliche Welt diejenige Art der Natur, welche geschaffen wird, aber selbst nicht schafft. Sie hat keine bleibenden Wirkungen und ist vergänglich, insofern sie Gegenstand der sinnlichen Wahr- nehmung ist. Die Gattungen, Arten und Atome (Individuen) dagegen, deren Zusammentreten die Körper bedingen, haben als intelligible Wesen ewigen Bestand; alles Unkörperliche ist unvergänglich in der ewigen Wahrheit Gottes. Erigena untersucht, welche Kategorien von Gott ausgesagt werden können. Bei der Besprechung der Kategorien, welche 1 I, 26. I, 34. In dem Kommentar des Erigena zu Marcianus Capella heißt es: „Genus est multarum formarum substantialis unitas. Secundum quosdam sic definitur genus. Sursum est generalissimum genus, ultra quod nullus intellectus potest ascendere, quod a Graecis dicitur #, nobis essentia. Est enim quaedam essentia, quae comprehendit omnem naturam, cujus partici- patione consistit omne quod est, et ideo dicitur generalissimum genus. Descen- dit autem per divisionem, per genera, per species, usque ad specilissimam speciem, quae a Graecis atomos dicitur, hoc est individuum, vel insecabile, ut unus homo, vel unus bos.‟ (Notices et Extraits des Man. A. XX, part. II, p. 17.) Nach Hauréau, Hist. de la philos. scolast. I. p. 172.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/56
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/56>, abgerufen am 17.05.2024.