wie in den beiden folgenden Jahrhunderten die wissenschaft- liche Auffassung sich noch mehr eingeschränkt hat und durch pedantische Plattheit ersetzt wurde.
2. Scotus Erigenas Lehre vom Körper.
Die glänzendste Frucht des Neuplatonismus bot dem Mittel- alter Johannes Scotus Erigena1 (+ um 877) in seiner Theo- phanie. Auch die Theorie der Materie vermag, nach einer bestimmten Richtung hin, aus den ausführlichen Darlegungen dieses gewissenhaften Denkers eine dauernde Weisung zu ziehen. Zwar ist ihm, dem strengen Idealisten, der sinnenmäßige Körper die unterste, wertloseste Stufe des Erfahrbaren, ein Nichtseien- des im Sinne der Theophanie; aber die Konsequenz seines Denkens zwingt ihn, auch die Möglichkeit des Daseins der Körperwelt zu untersuchen; und die Begriffe, welche er hierbei entwickelt, sind derart, daß sie vom Boden des rationalen Realismus, auf dem sie erwachsen sind, sich lösen lassen und einen bleibenden Wert für die Analyse des Körperlichen ge- winnen, indem sie von einer der Atomistik entgegengesetzten Abstraktion ausgehen.
Mit Übersetzung der Schriften beauftragt, welche man dem Dionysius Areopagita zuschrieb, schloß er sich an die dort niedergelegten, wahrscheinlich aus dem Ende des fünften Jahrhunderts stammenden neuplatonischen Lehren der Haupt- sache nach an, indem er die christliche Heilswahrheit mit Hilfe der Emanationstheorie zu begründen versuchte. Sein Interesse ist theologisch, wie das der ganzen scholastischen Zeit, deren erster kräftiger Denker er ist: alle Philosophie muß beginnen mit dem Glauben an die geoffenbarte Wahrheit.
Die Welt ist für Erigena ein Ausfluß der göttlichen Güte, ein Sichtbarwerden Gottes, dessen ewiges und undenkbares Sein sich dem Verstande und den Sinnen offenbart, indem es als die Erscheinung der natürlichen Körper und die Mannig- faltigkeit ihrer Wirkungen in unsrem Bewußtsein auftritt. Vom Allgemeinen zum Besonderen steigt die Weltbildung
1 Sein Hauptwerk De divisione naturae Libri quinque citiere ich nach der Ausgabe Oxonii, 1681, Fol. Vgl. die Übersetzung von Noack, Berlin 1870.
Rabanus Maurus. Scotus Erigena.
wie in den beiden folgenden Jahrhunderten die wissenschaft- liche Auffassung sich noch mehr eingeschränkt hat und durch pedantische Plattheit ersetzt wurde.
2. Scotus Erigenas Lehre vom Körper.
Die glänzendste Frucht des Neuplatonismus bot dem Mittel- alter Johannes Scotus Erigena1 († um 877) in seiner Theo- phanie. Auch die Theorie der Materie vermag, nach einer bestimmten Richtung hin, aus den ausführlichen Darlegungen dieses gewissenhaften Denkers eine dauernde Weisung zu ziehen. Zwar ist ihm, dem strengen Idealisten, der sinnenmäßige Körper die unterste, wertloseste Stufe des Erfahrbaren, ein Nichtseien- des im Sinne der Theophanie; aber die Konsequenz seines Denkens zwingt ihn, auch die Möglichkeit des Daseins der Körperwelt zu untersuchen; und die Begriffe, welche er hierbei entwickelt, sind derart, daß sie vom Boden des rationalen Realismus, auf dem sie erwachsen sind, sich lösen lassen und einen bleibenden Wert für die Analyse des Körperlichen ge- winnen, indem sie von einer der Atomistik entgegengesetzten Abstraktion ausgehen.
Mit Übersetzung der Schriften beauftragt, welche man dem Dionysius Areopagita zuschrieb, schloß er sich an die dort niedergelegten, wahrscheinlich aus dem Ende des fünften Jahrhunderts stammenden neuplatonischen Lehren der Haupt- sache nach an, indem er die christliche Heilswahrheit mit Hilfe der Emanationstheorie zu begründen versuchte. Sein Interesse ist theologisch, wie das der ganzen scholastischen Zeit, deren erster kräftiger Denker er ist: alle Philosophie muß beginnen mit dem Glauben an die geoffenbarte Wahrheit.
Die Welt ist für Erigena ein Ausfluß der göttlichen Güte, ein Sichtbarwerden Gottes, dessen ewiges und undenkbares Sein sich dem Verstande und den Sinnen offenbart, indem es als die Erscheinung der natürlichen Körper und die Mannig- faltigkeit ihrer Wirkungen in unsrem Bewußtsein auftritt. Vom Allgemeinen zum Besonderen steigt die Weltbildung
1 Sein Hauptwerk De divisione naturae Libri quinque citiere ich nach der Ausgabe Oxonii, 1681, Fol. Vgl. die Übersetzung von Noack, Berlin 1870.
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Rabanus Maurus. Scotus Erigena.
wie in den beiden folgenden Jahrhunderten die wissenschaft-
liche Auffassung sich noch mehr eingeschränkt hat und durch
pedantische Plattheit ersetzt wurde.
2. Scotus Erigenas Lehre vom Körper.
Die glänzendste Frucht des Neuplatonismus bot dem Mittel-
alter Johannes Scotus Erigena 1 († um 877) in seiner Theo-
phanie. Auch die Theorie der Materie vermag, nach einer
bestimmten Richtung hin, aus den ausführlichen Darlegungen
dieses gewissenhaften Denkers eine dauernde Weisung zu ziehen.
Zwar ist ihm, dem strengen Idealisten, der sinnenmäßige Körper
die unterste, wertloseste Stufe des Erfahrbaren, ein Nichtseien-
des im Sinne der Theophanie; aber die Konsequenz seines
Denkens zwingt ihn, auch die Möglichkeit des Daseins der
Körperwelt zu untersuchen; und die Begriffe, welche er hierbei
entwickelt, sind derart, daß sie vom Boden des rationalen
Realismus, auf dem sie erwachsen sind, sich lösen lassen und
einen bleibenden Wert für die Analyse des Körperlichen ge-
winnen, indem sie von einer der Atomistik entgegengesetzten
Abstraktion ausgehen.
Mit Übersetzung der Schriften beauftragt, welche man
dem Dionysius Areopagita zuschrieb, schloß er sich an die
dort niedergelegten, wahrscheinlich aus dem Ende des fünften
Jahrhunderts stammenden neuplatonischen Lehren der Haupt-
sache nach an, indem er die christliche Heilswahrheit mit
Hilfe der Emanationstheorie zu begründen versuchte. Sein
Interesse ist theologisch, wie das der ganzen scholastischen
Zeit, deren erster kräftiger Denker er ist: alle Philosophie
muß beginnen mit dem Glauben an die geoffenbarte Wahrheit.
Die Welt ist für Erigena ein Ausfluß der göttlichen Güte,
ein Sichtbarwerden Gottes, dessen ewiges und undenkbares
Sein sich dem Verstande und den Sinnen offenbart, indem es
als die Erscheinung der natürlichen Körper und die Mannig-
faltigkeit ihrer Wirkungen in unsrem Bewußtsein auftritt.
Vom Allgemeinen zum Besonderen steigt die Weltbildung
1 Sein Hauptwerk De divisione naturae Libri quinque citiere ich nach
der Ausgabe Oxonii, 1681, Fol. Vgl. die Übersetzung von Noack, Berlin 1870.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/55>, abgerufen am 21.11.2024.
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