Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten. Bd. 2. Weimar, 1897.Torms Flucht. es war unangenehm kalt -- als der erste Schimmerder Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete. Jch verzehrte den Rest meines Proviants, und als es hell genug geworden war, lugte ich vorsichtig über die Ebene. Das Schiff mußte sich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu sehen. Jch wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, so bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes entgegenkam. Jch blieb stehen und suchte durch Be- wegungen der Arme meine friedlichen Absichten ver- ständlich zu machen. Erst glaubte ich, das Schlimmste befürchten zu müssen, denn die Leute liefen unter lautem Geschrei auf mich zu und schossen ihre langen Flinten ab, aber sie zielten nicht auf mich. Bald er- kannte ich, daß dies eine Freudenbezeugung sein sollte. Einige ältere Männer, offenbar die Anführer, traten an mich heran und verbeugten sich mit allen Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten sie sich im Halbkreise um mich nieder, und ich setzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich verständigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer Einladung, sie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte sich die Spalte zu einem kleinen Thale, und hier fand sich eine Nieder- lassung, wo ich mit allen Ehren eines angesehenen Gastes aufgenommen wurde. Jch blieb einige Tage dort und wurde dann von meinen Gastfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereisen erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erst wurde mir nach und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhasa, die Hauptstadt von Tibet, der Sitz des Torms Flucht. es war unangenehm kalt — als der erſte Schimmerder Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete. Jch verzehrte den Reſt meines Proviants, und als es hell genug geworden war, lugte ich vorſichtig über die Ebene. Das Schiff mußte ſich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu ſehen. Jch wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, ſo bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes entgegenkam. Jch blieb ſtehen und ſuchte durch Be- wegungen der Arme meine friedlichen Abſichten ver- ſtändlich zu machen. Erſt glaubte ich, das Schlimmſte befürchten zu müſſen, denn die Leute liefen unter lautem Geſchrei auf mich zu und ſchoſſen ihre langen Flinten ab, aber ſie zielten nicht auf mich. Bald er- kannte ich, daß dies eine Freudenbezeugung ſein ſollte. Einige ältere Männer, offenbar die Anführer, traten an mich heran und verbeugten ſich mit allen Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten ſie ſich im Halbkreiſe um mich nieder, und ich ſetzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich verſtändigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer Einladung, ſie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte ſich die Spalte zu einem kleinen Thale, und hier fand ſich eine Nieder- laſſung, wo ich mit allen Ehren eines angeſehenen Gaſtes aufgenommen wurde. Jch blieb einige Tage dort und wurde dann von meinen Gaſtfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereiſen erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erſt wurde mir nach und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhaſa, die Hauptſtadt von Tibet, der Sitz des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0277" n="269"/><fw place="top" type="header">Torms Flucht.</fw><lb/> es war unangenehm kalt — als der erſte Schimmer<lb/> der Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete.<lb/> Jch verzehrte den Reſt meines Proviants, und als es<lb/> hell genug geworden war, lugte ich vorſichtig über die<lb/> Ebene. Das Schiff mußte ſich entfernt haben, es war<lb/> keine Spur mehr zu ſehen. Jch wanderte nun am<lb/> Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, ſo bemerkte ich,<lb/> daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes<lb/> entgegenkam. Jch blieb ſtehen und ſuchte durch Be-<lb/> wegungen der Arme meine friedlichen Abſichten ver-<lb/> ſtändlich zu machen. 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Torms Flucht.
es war unangenehm kalt — als der erſte Schimmer
der Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete.
Jch verzehrte den Reſt meines Proviants, und als es
hell genug geworden war, lugte ich vorſichtig über die
Ebene. Das Schiff mußte ſich entfernt haben, es war
keine Spur mehr zu ſehen. Jch wanderte nun am
Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, ſo bemerkte ich,
daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes
entgegenkam. Jch blieb ſtehen und ſuchte durch Be-
wegungen der Arme meine friedlichen Abſichten ver-
ſtändlich zu machen. Erſt glaubte ich, das Schlimmſte
befürchten zu müſſen, denn die Leute liefen unter
lautem Geſchrei auf mich zu und ſchoſſen ihre langen
Flinten ab, aber ſie zielten nicht auf mich. Bald er-
kannte ich, daß dies eine Freudenbezeugung ſein ſollte.
Einige ältere Männer, offenbar die Anführer, traten
an mich heran und verbeugten ſich mit allen Zeichen der
Ehrfurcht. Dann kauerten ſie ſich im Halbkreiſe um
mich nieder, und ich ſetzte mich ebenfalls auf den Boden.
Allmählich verſtändigten wir uns durch Pantomimen,
und ich folgte ihrer Einladung, ſie zu begleiten. Nach
einer langen Wanderung erweiterte ſich die Spalte zu
einem kleinen Thale, und hier fand ſich eine Nieder-
laſſung, wo ich mit allen Ehren eines angeſehenen
Gaſtes aufgenommen wurde. Jch blieb einige Tage
dort und wurde dann von meinen Gaſtfreunden nach
Süden geleitet. Nach mehreren Tagereiſen erreichten
wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erſt wurde mir
nach und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt
war Lhaſa, die Hauptſtadt von Tibet, der Sitz des
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